Meine Wagenburg: Der muslimische Verband

Teilhabe für Andere - Uniform für die Eigenen

8 Minuten, 27 Sekunden

Meine Wagenburg: Der muslimische Verband

In einem kürzlich geführten Gespräch mit einem Freund über die Widersprüche in der muslimischen Community erinnerte ich mich an eine schmerzliche Erfahrung aus meiner Zeit in der Rechtsabteilung eines großen muslimischen Verbandes. Diese Erinnerung führte mich zu grundsätzlichen Überlegungen über strukturelle Widersprüche in der muslimischen Verbandslandschaft – Widersprüche, die bis heute nachwirken und die Glaubwürdigkeit dieser Organisationen untergraben.

Vor Gericht für Teilhabe, in der Gemeinschaft in "Uniform"

Wir kämpften als Rechtsabteilung eines muslimischen Verbands vor Gericht und in der Gesellschaft unter anderem für Frauen, die wegen ihres Kopftuchs im Bildungs- und Berufsleben diskriminiert wurden. Diese Arbeit war aus mehreren Perspektiven bedeutsam: Sie war ein Einsatz der eigenen Fähigkeiten für die Gemeinschaft, ein Beitrag zur Aufrechterhaltung der Rechtsstaatlichkeit und ein Empowerment dieser Frauen - sowohl gesamtgesellschaftlich als auch innerhalb der Community. Die zivilgesellschaftliche und juristische Antidiskriminierungsarbeit war legitim, wichtig und notwendig.

Parallel zu unserer juristischen Arbeit predigten jedoch genug Imame und die Frauenabteilungen desselben Verbandes eine ganz andere Botschaft: Das wahre Glück der Frau liege in der Mutterschaft, ihr eigentlicher Platz sei zuhause bei den Kindern. Karriere und Berufsleben? Nicht wirklich erwünscht. Die Absurdität war offensichtlich: Wir erkämpften das Recht auf Teilhabe am Berufsleben, während intern die Botschaft lautete, Frauen sollten von diesem Recht bitte keinen Gebrauch machen. Kopftuchverbote galten als Inbegriff der Diskriminierung - aber dass Frauen tatsächlich außer Haus arbeiten sollten, war auch nicht wirklich vorgesehen.

Die verpasste Konsequenz: Jenseitsvertröstung statt Empowerment

Dabei hätte es konkrete Möglichkeiten gegeben, die juristische Arbeit praktisch zu untermauern und weiterzuführen. Gerade im Wohlfahrtsbereich hätte der Verband soziale Einrichtungen aufbauen können - als Arbeitgeber, der Beschäftigungsmöglichkeiten für genau diese Frauen schafft. Das wäre konsequent gewesen, eine praktische Fortsetzung der Antidiskriminierungsarbeit und ein wichtiges Signal in zwei Richtungen:

  • An die Frauen: Wir stehen hinter euch, nicht nur vor Gericht, sondern auch im Alltag.
  • An die Diskriminierenden in der Gesellschaft: Je mehr ihr ausgrenzt, umso aktiver werden wir zivilgesellschaftlich werden.

Doch an solchen Lösungen bestand kein Interesse. Im Gegenteil: Bei mir verfestigte sich mit der Zeit das Gefühl, dass man über die Diskriminierung von außen insgeheim froh war. So war man nicht selbst schuld an dem Zustand, den man eigentlich vorzog – die Abkapselung von der Gesellschaft, der Rückzug in die Community - insbesondere für die Frauen. Die selbstgebaute Wagenburg wurde plötzlich zum "Safe Space", den man möglichst nicht verlassen sollte. Die externe Diskriminierung legitimierte die interne Segregation. Für Frauen gab es "Seminare zur guten Hausfrau" und Jenseitsvertröstigung statt Empowerment.

Doppel-Engagement zwischen zwei Fronten

Meine Erfahrung war kein Einzelfall, sondern Teil eines breiteren Phänomens. Der Sozialanthropologe Werner Schiffauer hat in seinem Buch "Nach dem Islamismus" (2010) eine Generation von Akteuren beschrieben, die sich von den politisch-ideologischen Zielsetzungen des klassischen Islamismus distanziert haben, ohne ihre religiöse Identität aufzugeben. Diese sogenannten Post-Islamisten strebten nach einer Synthese: Sie wollten ihre muslimische Identität bewahren und gleichzeitig aktiv an der Gestaltung der deutschen Gesellschaft teilhaben.

„Post-Islamismus“

Der Begriff, geprägt von Forschern wie Asef Bayat und für den deutschen Kontext von Werner Schiffauer verwendet, beschreibt eine Haltung von Muslimen der zweiten und dritten Generation. Im Gegensatz zum klassischen Islamismus, der auf die Errichtung eines islamischen Staates abzielt, akzeptiert der Post-Islamismus den säkularen Rechtsstaat als Rahmen. Das Ziel ist nicht mehr die Transformation des Staates, sondern die Aushandlung von Rechten und die gleichberechtigte Teilhabe innerhalb der bestehenden Gesellschaft. Es geht um die Synthese von „Rechten und Pflichten“, um die Verbindung von religiöser Identität mit bürgerschaftlichem Engagement.

Für diese Akteure - zu denen ich mich in dieser Zeit ebenfalls zählte – bedeutete das Engagement in Verbänden einen Kampf an zwei Fronten: Gesamtgesellschaftlich setzten sie sich nicht nur für ihre jeweiligen Verbände ein, sondern für die muslimische Community insgesamt. Sie kämpften gegen Diskriminierung, für Religionsfreiheit, für Teilhabe und Anerkennung. Dabei konnten sie nicht auf das Renommee ihrer Institutionen zurückgreifen, denn in der öffentlichen Wahrnehmung genossen diese Verbände oft kein hohes Ansehen – zu Recht oder zu Unrecht sei dahingestellt. Vielmehr mussten diese Akteure immer wieder ihr eigenes, über lange Zeit und mit viel Arbeit aufgebautes persönliches Renommee für die Gemeinschaft einsetzen, ja geradezu opfern.

Im Gegenzug erwarteten diese Akteure, innerhalb der Community Gehör zu finden. Sie forderten, dass Fehlentwicklungen aufgegriffen und gelöst werden - auch und gerade wenn diese jahrzehntealte Traditionen oder noch aus den Herkunftsländern importierte Praktiken betrafen. Hier begann jedoch der Widerstand.

Wenn universelle Werte plötzlich "Deutschtümelei" werden

Die Forderung nach Aufwertung der Rolle von Frauen - gerade auch im eigenen und in anderen Verbänden - stieß innerhalb der konservativ-religiösen Strukturen auf vehementen Widerspruch. Wir wurden als "Modernisten" und "Reformisten" geschmäht - Begriffe, die in diesen Kontexten kurz vor dem Vorwurf des Glaubensabfalls rangieren.

Das Paradoxe war: Widerstand entstand nicht, wenn wir uns gesamtgesellschaftlich gegen Rassismus, Populismus oder religiöse Radikalisierung einsetzten. Im Gegenteil, diese Positionierungen waren erwünscht und wurden gefeiert. Der Widerstand brach erst dann auf, wenn wir unsere Kritik an Rassismus, Populismus oder religiöser Radikalisierung auch in den eigenen internen Kontext übertrugen. Plötzlich wurden Wahrheiten, die es "draußen" zu verteidigen galt, im inner-verbandlichen Kontext zu "Deutschtümeleien", zu verpöntem "deutsch" Denken. Der eigene Rassismus, der eigene Umgang mit den eigenen oder anderen Minderheiten, der eigene Chauvinismus und die eigenen Ausgrenzungsmechanismen waren tabu.

Diese Doppelmoral war frustrierend und entlarvend zugleich. Sie offenbarte, dass es zu vielen nicht wirklich um universelle Werte ging, sondern um Partikularinteressen. Antidiskriminierung ja - aber bitte nur, wenn sie der eigenen Gruppe nützt. Kritisches Denken ja – aber bitte nur nach außen gerichtet. Selbstreflexion? Fehlanzeige. Für mich persönlich waren es am Ende diese Widersprüche, die eine Hoffnung auf Besserung verfliegen und die innere und äußere Abkehr verstärken sollten.

Ein Strukturproblem über Verbandsgrenzen hinweg

Das Phänomen beschränkte sich dabei keineswegs auf den Verband, bei dem ich tätig war. Es war - und ist - ein viel breiteres Problem, das über Verbandsgrenzen hinweg besteht. In nahezu allen großen muslimischen Organisationen in Deutschland lässt sich diese Spannung zwischen progressiven Akteuren und konservativen Strukturen beobachten. Die einen kämpfen für Veränderung, die anderen wollen den Status quo bewahren – oder sogar in eine vermeintlich authentischere Vergangenheit zurückkehren. Dieses Phänomen ist, wie ich in einem anderen Beitrag dargelegt habe, auch eine Folge verfehlter staatlicher Ansätze (vgl. Deutschlands Islamdiskurs: Wie eine falsche Religionspolitik und muslimische Verbände uns die Zukunft verbauen).

In meinem Beitrag Heimat finden im Fremden? habe ich dargelegt, wie nach dem Weggang vieler reformorientierter Akteure keine drei oder vier Jahre vergingen, bis all ihre mühsam erkämpften Reformen wieder zurückgedreht wurden. Politisch-ideologisch wurde die Heimatorientierung wiederbelebt, religiös kehrte ein neo-traditionalistischer Extremkonservatismus zurück. Die Uhren wurden zurückgedreht, als hätte es die Reformbemühungen nie gegeben.

Herkunftslandbezug

Beschreibt die fortwährende politische, ideologische und kulturelle Ausrichtung von Migrantenorganisationen auf das Herkunftsland ihrer Gründergeneration. Anstatt eine eigenständige, in Deutschland verwurzelte Identität zu entwickeln, bleiben sie mental und oft auch strukturell an die politischen Debatten und staatlichen Direktiven der “alten Heimat” gebunden.

Neo-Traditionalismus

Bezeichnet eine religiöse Strömung, die als Reaktion auf Modernisierungsdruck eine Rückkehr zu einer vermeintlich “reinen” und “authentischen” Form der Tradition fordert. Sie ist oft extremistisch in ihrer Abgrenzung von der Moderne, lehnt kritische Auseinandersetzungen mit der eigenen Geschichte ab und propagiert eine buchstabengetreue, ahistorische Lesart religiöser Quellen.

Die letzte Konsequenz: Wenn Schutz verweigert wird

Wie fundamental dieser Widerspruch ist und welche menschlichen Kosten er verursacht, zeigte sich in einem Fall, der mich bis heute nicht loslässt. Eines Tages kontaktierte uns eine junge Frau, die am Telefon unter Tränen von massiver ehelicher Gewalt berichtete. Sie sprach kein Deutsch und hatte panische Angst, die Polizei einzuschalten. Ihr Anruf bei uns war ein Akt letzter Hoffnung, ein Hilferuf an ihre Glaubensgemeinschaft.

Wir sahen darin die dringende Notwendigkeit zu handeln und traten an den Vorstand sowie die Leiterin der Frauenabteilung heran. Unser Vorschlag: Der Verband müsse für genau solche Fälle eine Schutzeinrichtung, ein Frauenhaus, schaffen. Der Vorstand zeigte sich nicht abgeneigt; wir erarbeiteten über Nacht einen ersten Konzeptentwurf. Der Widerstand kam von einer unerwarteten Seite: Die Leiterin der Frauenabteilung stellte sich dem vehement entgegen. In einem Duktus, der die patriarchale Logik perfekt abbildete, erklärte sie, die Frau müsse „Geduld zeigen“ (sabr), dies würde ihr im Jenseits entsprechend vergolten werden.

An diesem Tag verlor ich jeglichen Respekt für diese Institution innerhalb des Verbandes. Mir wurde klar: Die Frauenabteilung war nicht, wie erhofft, der Motor oder die Avantgarde einer weiblichen Emanzipation innerhalb der Strukturen. Sie war zur Hüterin der patriarchalen Rangordnung geworden, deren theologische Autorität lediglich von den männlichen Führungsfiguren abgeleitet war. Ein Verband, der kein Problem mit Frauen hätte, bräuchte keine eigene Frauenabteilung, um sie zu verwalten.

Die junge Frau, die sich voller Hoffnung an ihre Glaubensbrüder gewandt hatte, musste ich an eine türkisch-sprachige, muslimische Mitarbeiterin eines Frauenhauses der Diakonie weiterleiten, die ich kurz zuvor kennengelernt hatte. Mir sitzt auch heute noch ein Kloß im Hals, wenn ich an diesen Fall zurückdenke – und an all die anderen, die von ihrem Umfeld und ihren religiösen Autoritäten zu „gläubiger Geduld“ angehalten und ins Jenseits vertröstet wurden, während sie zerbrachen.

Wer trägt die Verantwortung für echte Selbstbestimmung?

Heute, Jahre später, bleibt eine schmerzliche Erkenntnis: Unsere Arbeit war wichtig und richtig. Wir haben Frauen zu ihrem Recht verholfen, wir haben Diskriminierung bekämpft, wir haben für Teilhabe gestritten. Aber wir haben einen entscheidenden Kampf verloren – den um die Deutungshoheit innerhalb der eigenen Community. Wir wollten Brückenbauer sein, wurden aber zu Grenzgängern zwischen zwei Welten, in keiner wirklich zu Hause.

„Deutungshoheit“

Deutungshoheit bezeichnet die Macht, die vorherrschende Interpretation von Werten, Normen und Ereignissen innerhalb einer Gruppe oder Gesellschaft zu bestimmen. Wer die Deutungshoheit besitzt, legt fest, was als „richtig“ oder „falsch“, „islamisch“ oder „unislamisch“, „legitim“ oder „illegitim“ gilt. Der Kampf darum ist ein Kampf um die Definitionsmacht und damit um die ideologische Führung der Community.

Die Frage, die bleibt: Wie können progressive Kräfte innerhalb muslimischer Communities dauerhaft wirken, wenn die Strukturen selbst auf Bewahrung und Abgrenzung ausgerichtet sind? Wie kann man von innen heraus verändern, wenn Veränderung als Verrat gilt?

Diese Fragen sind nicht nur historisch relevant. Sie stellen sich heute genauso dringlich wie damals. Solange muslimische Verbände Antidiskriminierung nach außen predigen, aber Diskriminierung nach innen praktizieren, solange sie vermeintlich Rechte erkämpfen, die ihre Mitglieder nicht nutzen sollen, solange bleibt der Kampf unvollendet – und die Widersprüche bleiben schmerzhaft spürbar.


Literatur:\
Schiffauer, Werner (2010): Nach dem Islamismus. Eine Ethnographie der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş. Berlin: Suhrkamp.

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