Mein Beitrag „Nahost-Debatte: Aufrichtigkeit vor Theorie“ zielte darauf ab, eine Debatte über Verantwortung muslimischer Akteure und Verbände im Hier und Jetzt anzustoßen. Einige Reaktionen, insbesondere aus der erweiterten muslimischen Community, möchte ich hier gerne aufgreifen. Dabei geht es mir nicht darum, den Nahost-Beitrag zu verteidigen. Die Reaktionen sind vielmehr höchstwillkommene Paradebeispiele für tief verankerte Abwehrmechanismen, denen wir im innermuslimischen Diskurs und auch im Diskurs über den Islam immer wieder begegnen. #
Das eingegangene Feedback bietet daher eine willkommene Gelegenheit, drei dieser Phänomene genauer zu analysieren: die Flucht in die Geopolitik, den Schutzschild der Vielfalt und das instrumentelle Verhältnis zur Staatlichkeit und Herkunftslandloyalität. Zuerst möchte ich jedoch einen zusammenfassenden Einblick in die zum Teil sehr umfangreichen Reaktionen geben.
Ein zentraler Kritikpunkt an dem Beitrag „Nahost-Debatte: Aufrichtigkeit vor Theorie“ war die Verengung der Debatte auf einen rein deutschen bzw. europäischen Deutungsrahmen. Es wurde argumentiert, dass der Nahostkonflikt längst ein globales, geopolitisches Ereignis sei, das in Ländern wie China oder Indien nicht primär moralisch, sondern strategisch als Ausdruck globaler Machtverschiebungen und als Kritik an westlicher Doppelmoral interpretiert werde. Diese verkürzte Perspektive, so der Einwand, setze sich in der undifferenzierten Betrachtung der Akteure fort: Muslime in Deutschland seien keine homogene Gruppe, deren Reaktionen nur im jeweiligen Herkunfts- und Sozialkontext verständlich würden. Ebenso werde die palästinensische Realität fälschlicherweise auf die Hamas reduziert, während andere politische und gesellschaftliche Gegebenheiten, wie etwa im Westjordanland, übersehen würden.
Des Weiteren wurde kritisiert, dass eine analytische Versteifung auf die großen, bekannten Islamverbände der muslimischen Realität in Deutschland nicht gerecht werde. Die muslimische Organisationslandschaft sei weitaus vielfältiger und reiche von basisorientierten Zusammenschlüssen bis zu stark zentralistischen Organisationen. Insbesondere wurde auf die Existenz weniger sichtbarer, aber von Politik und Kirchen eng eingebundener Akteure hingewiesen. Hier zeige sich ein struktureller Widerspruch: Während öffentlich mangelnde Transparenz beklagt werde, bestünden im Hintergrund enge institutionelle und finanzielle Verflechtungen. Ergänzt durch schwer greifbare transnationale Online-Netzwerke und eine oft unrealistische gesellschaftliche Erwartungshaltung, sei eine alleinige Fokussierung auf die großen Verbände daher analytisch nicht zielführend.
Die vorgebrachte Kritik ist aus meiner Warte nachvollziehbar. Aber gerade deshalb muss ich sie leider als wohlmeinende Relativierung einordnen. Das Feedback fällt tatsächlich in die Perspektive zurück, die schon bei Mazyek im Ansatz zu sehen war: Der Versuch der Entschärfung einer schmerzhaften lokalen Debatte über Verantwortung - hier insbesondere der Verantwortungsnahme durch Muslime in Deutschland - durch den Verweis auf eine unverfügbare, fast schon transzendente globale Komplexität. Die Reaktion auf den Beitrag geht damit leider am Kern der Sache vorbei und bestätigt sogar (unfreiwillig?) die Diagnose des ursprünglichen Beitrags: die Flucht aus der konkreten Verantwortung vor der eigenen Haustür in die bequeme Abstraktion.
Phänomen 1: Die Fluchtburg der Geopolitik
Das erste und vielleicht verbreitetste Ausweichmanöver ist die Flucht ins Globale. Mein Beitrag ist keine außenpolitische Analyse und erhebt nicht den Anspruch, globale Machtverschiebungen zu deuten. Er ist eine gezielte Replik auf einen Akteur wie Aiman Mazyek, der, mit einem gewissen Anspruch auf Stellvertretung für eine schweigende muslimische Öffentlichkeit, selbst den Bezugsrahmen Deutschland - unsere Erinnerungskultur, unsere Staatsräson - gewählt hat.
Wenn der Antisemitismus auf Berliner Demonstrationen skandiert wird, ist das kein geopolitisches Statement, sondern ein Ereignis mit unmittelbarer Wirkung für das Zusammenleben hier und jetzt. Die Demonstrierenden mögen eine überlokale, globale Wirkung ihres individuellen und gemeinschaftlichen Handelns auf den Demonstrationen, den Universitätsbesetzungen oder ihrem Auftreten in den sozialen Medien annehmen, so ist eine solche Annahme erst einmal das Produkt ihrer eigenen Imagination. Ein quanitativer oder qualitativer Nachweis für diese aktivistische Verortung und Wirksamkeitsentfaltung im globalen Kontext kann nicht erbracht werden.
Die Debatte auf eine globale Ebene zu heben, erscheint mir hier als ein Versuch, Probleme in unserer eigenen Gesellschaft zu vernebeln und die Verantwortung der hiesigen Akteure zu verwässern. Durch die Projektion auf den globalen Horizont kann die eigene, wahrgenommene Ohnmacht im hiesigen Kontext überdeckt werden. Diese gefühlte Ohnmacht wird in der Kritik gegenüber dem medialen Diskurs und dem Handeln der Politik offen in Form des Vorwurfs bestätigt. Erst die Verknüpfung des eigenen Handelns in einen größeren globalen Rahmen bietet die Motivation, die es für die Fortführung des eigenen Einsatzes und die Rekrutierung neuer Mitstreiter braucht.
Der Anspruch einer konkreten Wirksamkeit im hier und jetzt beschränkt sich oftmals auf das Praktizieren eines "Moralspektakels" (Philipp Hübl, 2019) in Form von öffentlich zelebrierten Boykottaufrufen. Ein Herunterbrechen der globalen Ansprüche auf den eigenen konkreten Lebenskontext, das auch als gemeinsamer Nenner der sehr unterschiedlichen Akteursgruppen dienen könnte, bleibt dagegen aus.
Phänomen 2: Der Schutzschild der Vielfalt
Das zweite Phänomen ist der strategische Einsatz des Vielfaltsarguments, um die muslimische Verbandslandschaft und ihre Führungsebenen aus der Verantwortung zu nehmen. Mein ursprünglicher Beitrag ist keine soziologische Milieustudie, sondern eine Kritik an öffentlicher muslimischer Führung und deren Versagen. Natürlich gibt es eine muslimische Vielfalt, wie diese konkret aussieht, wie diese sich zusammensetzt, welche Akteure es mit welchen Positionen gibt - dies kann man gerade auf dieser Seite (Karahan.net) in zahlreichen, teilweise zwei Jahrzehnte zurückreichenden Beiträgen lesen.
Die Vielfalt der muslimischen Lebenswelten als Argument gegen die Kritik an den großen Verbänden ins Feld zu führen, greift jedoch zu kurz. Diese Vielfalt wird nämlich weder öffentlich wahrgenommen, noch gibt es bisher effektive Strukturen, die diese Vielfalt auch tatsächlich für den öffentlichen Empfängerhorizont wahrnehmbar machen wollen. Am wenigsten sind es oftmals die großen muslimischen Verbände, die ein Interesse daran haben, diese Vielfalt sichtbar werden zu lassen.
Der Verweis auf die muslimische Vielfalt in gesamtgesellschaftlichem Kontext erweist sich oftmals eher als Versuch, die Verbände und ihre Führungsebene dann aus der Verantwortung zu entlassen, wenn ihr öffentlich wahrnehmbares Scheitern nicht mehr rational zu erklären ist. Diese Verbände erheben nun mal einen Repräsentationsanspruch und gelten in unterschiedlichen Formen als primäre Ansprechpartner von Politik und Medien. Ihr Versagen in öffentlichen Diskursen - hier ihr ohrenbetäubendes Schweigen nach dem 7. Oktober - ist damit erheblich und relevant, unabhängig davon, ob das einzelne muslimische Individuum sich von ihnen vertreten fühlt oder nicht, ob es sich davon angesprochen fühlt oder nicht.
Nicht erst seit, aber besonders nach dem 7. Oktober haben die muslimischen Verbände als Repräsentanz-Institutionen der gelebten, gemeinschaftlichen muslimischen Religiosität ein öffentliches Vakuum hinterlassen, das von Hasspredigern auf der Straße und radikalen Stimmen im Netz gefüllt wurde und auch weiterhin wird. Als von Muslimen geschaffene größte zivilgesellschaftliche Struktur haben sie eine Verantwortung und Pflichten, sowohl gegenüber der Öffentlichkeit, aber noch viel weitergehender gegenüber der muslimischen Community. Die Existenz einer weitergehenden muslimischen Vielfalt über die Verbände hinaus kann die Verantwortungslosigkeit der Verbände und ihrer Führung weder entschuldigen noch sie aus ihrer Pflicht entlassen.
Phänomen 3: Instrumentelles Verhältnis zur Staatlichkeit und Herkunftslandloyalität
Ein drittes Phänomen ist die ausgeprägte Inkonsistenz im Umgang mit Staatlichkeit, die sich gerade bei den großen, aber auch bei so manchen kleinen muslimischen Verbänden beobachten lässt. Sie pflegen ein zutiefst instrumentelles Verhältnis zum deutschen Staat, während sie gleichzeitig eine weitgehende Unterordnung oder loyale Anbindung an die Staatlichkeit ihrer Herkunftsländer praktizieren.
Gegenüber Deutschland wird der Staat primär als Garant für Rechte und als Quelle für Ressourcen wahrgenommen. Man beruft sich auf die Privilegien des religionsverfassungsrechtlichen Systems, fordert finanzielle Förderung und klagt die im Grundgesetz verankerten Freiheiten ein. Der deutsche Staat ist ein Dienstleister, von dem man profitiert. Jede Erwartungshaltung des Staates, die über diese Rolle hinausgeht - etwa die Forderung nach einer klaren Wertepositionierung oder gesellschaftlicher Mitverantwortung -, wird hingegen schnell als unzulässige Einmischung oder gar als antimuslimischer Rassismus abgewehrt.
Gegenüber den Herkunftsländern, allen voran der Türkei, zeigt sich ein völlig anderes Bild. Hier herrscht keine distanzierte, auf Rechten basierende Beziehung, sondern eine von Loyalität und oftmals direkter Abhängigkeit.
- Bei Verbänden wie der DITIB besteht dies in einer direkten strukturellen Unterordnung unter die türkische Religionsbehörde Diyanet, die wiederum dem türkischen Präsidenten unterstellt ist. Politische Direktiven und theologische Linien aus Ankara werden bis in die lokalen deutschen Moscheegemeinden durchgesetzt. Reformversprechen, wie die Imam-Ausbildung in Deutschland, entpuppen sich bei genauerem Hinsehen oft als organisatorische Anpassungen, die die inhaltliche Kontrolle nicht antasten können.
- Bei anderen, wie der IGMG, ist dieser Herkunftslandbezug das Ergebnis einer bewussten strategischen Ausrichtung. Eine in den 2000er Jahren gefahrene, auf ein Ankommen in Deutschland ausgerichtete Haltung wurde von der nun seit über 14 Jahren wirkenden aktuellen Führung systematisch durch eine Haltung ersetzt, die auf Loyalität zur und oftmals auch auf eine persönliche Zukunftsplanung in der Türkei aufbaut. Die formale Unabhängigkeit wird hier durch eine selbstgewählte ideologische und personelle Nähe zur türkischen Politik ersetzt.
Diese Asymmetrie führt zu einem fundamentalen Glaubwürdigkeitsproblem. Die Verbände agieren nicht als unabhängige deutsche Religionsgemeinschaften, sondern als Akteure mit doppelter Loyalität. In Krisenmomenten wird diese Inkonsistenz besonders deutlich: Während man in Deutschland unter öffentlichem Druck Erklärungen gegen den Hamas-Terror unterzeichnet, wird dieselbe Unterschrift gegenüber der türkischen Öffentlichkeit relativiert oder gar als erzwungener Akt dargestellt, um dem dortigen politischen Klima gerecht zu werden. Das Eintreten für Demokratie, Vielfalt und andere Werte wird so zur Verhandlungsmasse, die der Loyalität zum Herkunftsland untergeordnet wird.
Vom globalen Narrativ zur lokalen Integrität
Die Flucht ins globale Narrativ, der Schutzschild der Vielfalt und das instrumentelle Verhältnis zur Staatlichkeit sind somit mehr als nur Reaktionen auf einen einzelnen Text. Sie sind tief verankerte Muster der Verantwortungsabwehr, die eine grundlegende Frage umgehen: die nach der Verbindlichkeit für die Gesellschaft, in der man lebt. Der Verweis auf globale Diskurse oder interne Pluralität mag in anderen Kontexten legitim sein, hier fungiert er jedoch als Ablenkungsmanöver, das die Debatte über die Grundpfeiler unseres Zusammenlebens gezielt verwässert.
Angesichts der ideologischen, globalen Ansprüche des Islamismus (Islamcılık) – und hier geht es implizit auch um die Auseinandersetzung mit dieser Ideologie – gewinnt diese lokale Verpflichtung an entscheidender Bedeutung. Die Auseinandersetzung mit diesen Abwehrmustern ist daher auch eine notwendige Konfrontation mit dieser Ideologie. In dieser Auseinandersetzung zeigt sich wahre Aufrichtigkeit nicht im Verständnis für die Komplexität der Welt, sondern in der unbedingten Verantwortung für die eigene Nachbarschaft und damit in gelebter lokaler Integrität.



