Vor der Frage, wie denn Notfallbegleitung für Muslime aussehen kann, muss erst die Frage beantwortet werden, ob denn Muslime überhaupt einer Notfallbegleitung bedürfen. Angesichts der weitestgehenden Abwesenheit dieses Begriffes im inner-muslimischen Diskurs dürfte dies eine berechtigte Frage sein: Brauchen Muslime überhaupt so etwas wie eine institutionalisierte Notfallbegleitung.
Gesellschaften stehen im stetigen Wandel, und nicht immer geht ein bewusstes selbstverursachtes Umdenken Veränderungen voran. Oftmals sind es gerade Aspekte des alltäglichen Lebens, die der Mensch nicht in der eigenen Hand hat, die ihn aber, ob er nun will oder nicht, vor veränderte Tatsachen stellten.
Vom gesamtgesellschaftlichen Wandel, dem wir stetig im Guten wie im Schlechten ausgesetzt sind, bleibt auch der muslimische Teil unserer Gesellschaft nicht verschont. Die Migration aus ländlichen Gebieten in Städte und Großstädte hat viele Muslime mit Problemen konfrontiert, die sie in dieser Form bisher nicht gekannt haben. Dabei macht es nicht einmal einen großen Unterschied, ob sie in die anonyme Mega-Metropole Istanbul oder in die anonyme Metropole Köln gezogen sind.
Zweifellos gibt es in der muslimischen Tradition sehr viele Elemente, die den Einzelnen im Notfall auffangen sollen. Diese Auffangmechanismen haben aber hauptsächlich davon gelebt, dass „man“ sich gekannt und die großfamiliäre Gemeinschaft intakt und zusammen geblieben ist.
Diese Strukturen sind aber am Aufbrechen, oder sind es bereits schon. Immer mehr Menschen sind allein, vereinsamen. Den Nachbarn im Wohnblock kennt man schon nicht mehr, erst recht nicht die Familie auf der anderen Straßenseite. Es ist nicht mehr der Nachbar, der in der Notsituation zur Stelle ist, sondern der Notarzt oder der Feuerwehrmann. Familienmitglieder wohnen nicht mehr im Haus nebenan, sondern am anderen Ende der Republik, der Freundeskreis hat sich in alle Stadtviertel verteilt.
Die muslimische Gemeinschaft steht somit vor dem Problem, dass bewährte Mechanismen unter den veränderten Voraussetzungen sehr schnell wegfallen sind. Sie sind so schnell weggebrochen, dass eine gesunde Umwandlung dieser kaum möglich erscheint. Das städtische Milieu hat zwangsläufig viel Gewohntes und Bewährtes aus dem Blick geraten lassen – den meisten ist dieser Wandel aber nicht einmal bewusst geworden.
Dass sich etwas verändert hat, wird oftmals aber erst in der Krise deutlich. Erst dann wird nämlich klar, dass bis dahin als etabliert angesehene Fürsorge- und Auffangmechanismen einfach nicht mehr vorhanden sind.
Das anonyme Leben in den Städten, die Abwesenheit schnell erreichbarer Verwandter und die fehlende Erfahrung mit Notsituationen machen auch die Notfallbegleitung für Muslime zur Notwendigkeit. In solch einer Situation ist die Notfallbegleitung keine Option mehr. Insoweit erübrigt sich die Frage nach dem „Ob“, vielmehr tritt die Frage nach dem „Wie“ in den Vordergrund.
Dabei stehen wir jedoch vor einigen besonderen Problemen. Zum einen gibt es das Problem des teilweise fehlenden Bewusstseins für die Notwendigkeit der institutionalisierten Notfallbegleitung – nicht weil keine Notwendigkeit für Hilfe gesehen wird, sondern weil es oftmals noch ein zu großes Vertrauen in alte Strukturen gibt (Familie, Nachbarn, Freunde), die aber so nicht mehr vorhanden, oder zumindest in der akuten Notfallsituation nicht erreichbar sind.
Aber auch dort, wo es zu dieser verwandtschaftlichen oder nachbarschaftlichen Hilfe kommt, kann dies wiederum zu Missverständnissen führen. Diese Art der Hilfe ist mittlerweile ungewohnt, und bei manchen Notsituationen wohl auch nicht ganz angebracht. Besonders dann, wenn es zur Hilfeleistung besonderen technischen oder fachlichen Know-hows bedarf, um überhaupt helfen zu können. In solchen Zusammenhängen können sich Einsatzkräfte teilweise an ihrem Einsatz als behindert sehen, wenn Freunde und Familie des Betroffenen sich einfach nicht aus dem Rettungseinsatz heraushalten können. Dabei wird diese Hilfe, dieser Einsatz für den Notleidenden aber von einem traditionell muslimischen Umfeld als Pflicht angesehen, selbst gegenüber dem, den man nicht kennt. Es besteht für die muslimische Gemeinschaft quasi eine immanente Verpflichtung der Fürsorge für den anderen, von der Krankheit bis zur Beerdigung und sogar darüber hinaus (Fard Kifaye).
Ein Großteil dieser vormals individuellen Hilfe wird bereits jetzt in institutionalisierter Form angeboten. In der muslimischen Gemeinschaft sind es die Moscheegemeinden, die schon in der Vergangenheit und besonders in der Gegenwart, die immer größer werdende Lücke im Fürsorge-Netz ausfüllen. Viele Aspekte der vormals nachbarschaftlichen und verwandtschaftlichen Hilfe sind mittlerweile auf Moscheegemeinden und im weitesten Sinn auf die muslimischen Religionsgemeinschaften übergegangen, ob dies nun die Fürsorge mit Sterbekassen für den Todesfall ist oder die Fürsorge für die Bildung der Kinder mit Nachhilfe- und Förderkursen. Insoweit kann schon die Übernahme viele dieser Aufgaben durch die Moscheegemeinden als ein Teil des oben angesprochenen gesellschaftlichen Wandels gesehen werden.
Ein großes Handicap der Moscheegemeinden in diesem Bereich ist jedoch, dass sie oftmals nur auf eingetretene Ausfallerscheinungen reagieren können. Sie sind bisher weder personell, noch strukturell darauf ausgerichtet, diese Arbeit im Ganzen durchzuführen. In der Regel ist es nur der Imam, der in einer Gemeinde hauptamtlich beschäftigt wird. Es gibt auch Gemeinden, die sich nicht dauerhaft einen fest angestellten Imam leisten können. Und viele Imam sind nicht dafür ausgebildet, in Not- und Krisensituationen für die Betroffenen da zu sein.
Zu oft hängt es mehr vom privaten Engagement des Imams oder ehrenamtlicher Helfer in der Gemeinde ab, ob eine Notfallbegleitung zumindest für die eigenen Gemeindemitglieder geleistet werden kann. Dabei fehlt es jedoch zwangsläufig an einer professionellen Ausbildung hinsichtlich der Tätigkeit als Notfallbegleiter. Insbesondere was den eigenen Umgang und die eigene Bewältigung mit Notfallsituationen angeht.
Ein grundsätzliches Problem ist, dass selbst Gemeinden, die diese Arbeit aktiv betreiben, einfach zu spät von der Notsituation erfahren. Die Betroffenen selbst sind in der Regel nicht in der Lage sofort um Hilfe zu bitten. Es sind dann oftmals erst Freunde und Verwandte, die die Gemeinde informieren. In der eigentlichen Krisenphase kann man so aber für die Betroffenen nicht da sein.
Zudem ist, angesichts der notwendigen dauernden Verfügbarkeit, die Notfallbegleitung nichts, was in einer Kommune von einer einzigen Moscheegemeinde bewältigt werden kann. Vielmehr ist dies eine Verantwortung, die von allen Gemeinden nur gemeinsam gestemmt werden kann.
Mittlerweile gibt es in jeder größeren Stadt ein Netzwerk zwischen Moscheegemeinden, die eine Basis dafür darstellen kann, solch eine Aufgabe zu übernehmen.
Hierbei müssen sich muslimische Religionsgemeinschaften jedoch folgender Aspekte bewusst werden:
1) Es bedarf einer konkreten gemeinsamen Aufarbeitung dieses Themenfeldes. Dabei muss insbesondere die Notwendigkeit dieser Arbeit, die mögliche Art der Umsetzung, aber auch der eigene, in der Regel religiöse Antrieb für diese Aufgabe herausgearbeitet werden. Dabei wird man sicherlich auch aus den Erfahrungen der kirchlichen Notfallseelsorge und nicht-kirchlichen Notfallbegleitung schöpfen können.
2) Es bedarf einer expliziten Benennung dieses Themas als ein originär-eigenes Aufgabenfeld. Wir dürfen nicht auf die „Selbstverständlichkeit“ dieses Themas vertrauen. Eine Bewusstseinsfindung hin zu der Notwendigkeit dieser Arbeit muss der eigentlichen Suche nach möglichen Aktiven vorangehen.
3) Es müssen ständige Verantwortliche für den Bereich der Notfallbegleitung bereitgestellt werden, die mit Schulungen auf ihre Aufgabe vorbereitet und später auch weiter begleitet werden.
4) Angesichts einer gesamtgesellschaftlichen Rückläufigkeit des sozialen Einsatzes darf sich das Einsatzfeld dieser muslimischen Notfallbegleiter nicht auf Muslime beschränken. Vielmehr ist die Frage nach der möglichen Einbindung in bestehende Notfallbegleitungs-Systeme zu prüfen. Dies hätte insoweit den positiven Effekt der gegenseitigen Sensibilisierung für die jeweiligen Bedürfnisse der Betroffenen durch die muslimischen und nichtmuslimischen Notfallbegleiter.
5) Auch stellt sich die Frage, wie der Umgang in besonderen Notfallsituationen aussehen muss, bei denen Menschen mit muslimischen Hintergrund besonders große Probleme (Scham) bei der Bewältigung haben: Selbstmord, Drogentot usw.
Schlussendlich kann gesagt werden, dass es auch unter Muslimen einen Bedarf an Begleitungsangeboten im Notfall gibt. Die bestehenden muslimischen Strukturen bieten zwar eine Plattform, auf der dieses Angebot aufgebaut werden kann. Eine Vernetzung, Erfahrungsaustauch und Zusammenarbeit mit etablierten Notfallseelsorge und –begleitungssystemen erscheint jedoch als sinnvoll.
Der Beitrag ist erschienen in:
Notfallbegleitung für Muslime und mit Muslimen: Ein Kursbuch zur Ausbildung Ehrenamtlicher