Noch vor einem Jahr bezeichnete der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Forderung nach der Umwandlung der Hagia Sophia als eine Rechnung, “dessen Kosten für uns zu hoch” wären. Mittlerweile müssen sich die Rechnungspositionen dermaßen verschoben haben, dass selbst ein solch “kostspieliger” Schritt für das politische Weiterbestehen notwendig erscheint.
Gebaut wurde die Hagia Sophia im 6. Jahrhundert nach Christus. Zur Moschee wurde sie mit der Eroberung Istanbuls durch die Osmanen 1453, mit einem Kabinettsbeschluss 1934 der jungen türkischen Republik wurde sie, auch mit der Unterschrift des Rebuplikgründers Mustafa Kemal Atatürk, zu einem Museum. Diese Unterschrift dürfte wohl auch der Grund dafür gewesen sein, dass am 10. Juli 2020 erst der türkische Staatsrat (“danıştay”) den damaligen Beschluss für ungültig erklären musste, damit am selben Tag der aktuelle Präsident Erdoğan mit einem eigenen Erlass die Verwaltung der “Hagia Sophia Moschee” der türkischen Religionsbehörde Diyanet übertragen und das Gebäude zum Gebet freigeben konnte.
Am Ende der langen Geschichte der Hagia Sophia ging es dann doch sehr schnell. War es der fehlende Gebetsraum oder die besonders große spirituelle Rolle der Hagia Sophia im Leben der Muslime in der Türkei, die ausschlaggebend für diese Entscheidung gewesen ist? Nein, ernstgemeinte religiöse Gründe gibt es nicht für diese Entscheidung. Ein brennendes gesellschaftliches Problem dürfte es auch nur für einen geringen Teil der Bevölkerung dargestellt haben. Es ist eher eine Enthistorisierung der Causa Hagia Sophia zur weitergehenden Ideologisierung des Islams als Religion im Dienste eines immer weiter strauchelnden politischen Führers und seines Schattens, der AKP.
Kirche, Moschee, Museum
Es gibt wahrlich genug Literatur und Diskussion zu der Entscheidung Mehmed des II., die Hagia Sophia nach der Eroberung Konstantinopels von einer Kirche in eine Moschee umzuwandeln. In den heutigen Diskurs werden dabei zwei Aspekte von den Verteidigern der Umwandlungsthese eingeführt: Sein Sultans-Anspruch auf die Hagia Sophia als sein “kılıç hakkı”, sein “Schwertrecht” und seine Stiftung der Hagia Sophia als Moschee. Mag es vordergründig um die Wiederherstellung eines 600 Jahre zurückliegenden Anspruchs gehen, geht es den Umwandlungsbefürwortern doch vorrangig um die Auseinandersetzung mit dem Kabinettsbeschluss von 1934. Der Streit verläuft nicht zwischen Religionsgrenzen, zwischen dem Christentum und dem Islam. Diese und ihre Anhänger sind wenn überhaupt die Leidtragenden in diesem Streit. Der Streit findet an ideologischen Grenzen statt. Es ist jeweils eine Abrechnung mit der eigenen Geschichte, frühren und aktuellen Entscheidungen von Zugehörigkeit und Identifikation.
Die Umwidmung 1934 war neben anderen Gründen für die damaligen Verantwortungsträger der Zenit eines Abnabelungsprozesses vom ungeliebten osmanischen Erbe. Die Umwidmung zur Moschee war für Mehmed II. die Manifestation seines Machtanspruchs in dieser Stadt, eine Konsequenz aus seiner Sukzession in die Funktion des Kaisers. Die Entwidmung und Funktionsänderung 1934 war für das kemalistische Regime die Finalisierung des Herrschaftsanspruchs der Republik über das Erbe seines Vorgängers, dem Osmanischen Reich. Die eigene Legitimation musste nicht mehr aus dem historischen Bezug gezogen werden, ein Zurückgreifen auf die osmanische Herrschaft sollte nicht notwendig sein. Die Republik sollte aus eigenem Herrschaftsanspruch und mit eigener Legitimation die Ewigkeitsklauses der Stiftung Mehmed II. außer Kraft setzen und dem eigenen laizistischen Anspruch entsprechend den Raum entsakralisieren können. Zwei Debatten wurden damit mit einem einzigen Schritt für beendet erklärt: Die Beziehung zum osmanischen Erbe und die religiös-weltanschauliche Natur der neuen, laizistischen Republik.
“…Geist in einem Ort…”
Mag es zu dem Zeitpunkt keine wahnehmbare Gegenwehr gegen diesen Schritt gegeben haben, der autoritäre Charakter des damaligen kemalistischen Regimes dürfte dem auch kaum Raum gelassen haben. Mit dem verstärkten Auftauchen einer islamischen Bewegung in der Türkei wurde aber die Causa Hagia Sophia zu einem Sehnsuchtsort des politischen Islams. In der Museumswerdung der Hagia Sophia kulminierte für sie die Abkehr vom osmanischen und islamischen Erbe, der Verrat an der historisch-kulturellen Identität des Landes. Entsprechend wurde die Hagia Sophia zu einem Topos aufgeladen, in dem die religöse Nutzung nur am Rande eine Rolle spielte. Der nationalistische Dichter Necip Fazil Kısakürek spiegelt diese Haltung 1965 in seiner Hagia Sophia Ansprache wortgewaltig wieder:
“Die Süleymaniye (Moschee) in Istanbul, die Selimiye (Moschee) in Edirne, denen gegenüber der Petersdom in Rom, der Notre Dame in Paris, bei uns und bei ihnen noch viele andere, können zwar materiell und von ihrem Zweck ausgehend auch ihrem Sinn nach wertvoll sein, sie können aber an Wert nicht einmal an die Schwelle der Hagia Sophia heranreichen. Denn jedes von diesen ist ein Werk, das unter den Voraussetzungen der jeweils eigenen Zwecksetzung einseitig erbaut worden ist. Selbst wenn die Hagia Sophia neben diesen nur ein Hühnerstall wäre, so wurde ihr ein Los zuteil, dass man nicht mit Materiellem oder dem Maßstab einer einseitigen Sinnstiftung gerecht werden könnte. Die Hagia Sophia ist weltweit das unvergleichliche Symbol dafür, dass eine Bedeutung, eine Sinnstiftung die entgegengesetzte Bedeutung angreifen und sie schlagen konnte. Die anderen sind Orte in einem bestimmten Geist, die Hagia Sophia ist ein Geist in einem Ort; der siegreiche Geist in einem entgegengesetzen Ort. Auf der Welt sind viele Kirchen in Moscheen, viele Moscheen in Kirchen umgewandelt worden, aber dies hier, ist ausgehend von den historischen Voraussetzungen einzigartig.”
Gerade Kisaküreks Pathos zeigt deutlich, dass es bei diesem Diskurs, bei der Forderung nach Wiedereinsetzung in den Moscheestatus nicht um den religiös-spirituellen Aspekt geht. Es ist der ideologische Herrschaftsanspruch, das Zeichen der kulturellen Hoheit, die Auseinandersetzung mit der Gründergeneration der Republik, der hier zum Tragen kommt. Kisakürek ist schließlich auch eines der Gallionsfiguren der religiösen und der nationalistischen Opposition gegenüber dem Kemalismus gewesen, der mit seinen Werken die Vermengung der ursprünglich anti-nationalistischen islamischen Bewegung mit dem Nationalismus vorangetrieben hat. Folgerichtig kann er auch als eines der Väter der nationalistisch-religiösen Agenda Erdoğans und der AKP angesehen werden.
Hagia Sophia als “nationale Sache”
Einen noch viel größeren Eindruck als Kısakürek hat Necmettin Erbakan auf die Wahrnehmung der Hagia Sophia hinterlassen. In dessen Diskurs waren es zwei Sehnsuchtsorte: die Aksa Moschee in Jerusalem und die Hagia Sophia in Istanbul. Während die Al-Aksa eine grenzüberschreitende Forderung darstellte, die die Milli Görüş-Bewegung in der Türkei an die weltweite muslimische Gemeinschaft, die Umma, anbinden sollte, war die Umwandlung der Hagia Sophia eine „milli dava“, eine „nationale Sache“. Die Umwandlung war die kaum erreichbare Maximalforderung gegenüber dem kemalistischen Establishment. Bei ihm ist die Verschränkung mit der religiösen Motivation stärker, doch auch dort geht es am Ende um die Erweckung einer Nation. In einer Parlamentsansprache im September 1974 stellt er als stellvertretender Ministerpräsident der CHP-MSP-Regierung fest:
„Denn die Hagia Sophia ist, inspiriert von dem Sieg der Gerechtigkeit über das Unrecht, auch Symbol der Auseinandersetzung im politischen Bereich. Es ist ein Zeichen, das eine Nation, die von ihren geistigen Wurzeln entfernt werden soll, daran erinnert, wer sie ist und wo sie stehen muss.“
Verfolgte man die Debatten der letzten Monate zur Hagia Sophia in der Türkei, wurde einem ein Schnelldurchgang durch über 50 Jahre Hagia Sophia-Diskurs verschiedener, untereinander sich nicht unbedingt wohlgesinnter nationalistisch-religöser und islamistischer Gruppierungen geboten. Bemerkenswert war dabei, wie intensiv die Enthistorisierung der Eroberung Konstantinopels, die Umwidmung zur Moschee und dann zum Museum war, wie anachronistisch der Umgang mit diesen Ereignissen ablaufen konnten. Die ideologische Brille ließ quasi die Eroberung und die beiden Umwidmungen alle gleichzeitig im hier und jetzt stattfinden. Aydın Süer analysiert exemplarisch an einem sehr aktuellen Ereignis, den Feierlichkeiten zur Eroberung Konstantinopels am 29. Mai 2020, den Einsatz der “Nostalgie als Machtinstrument“.
Identitätsstiftende Enthistorisierung
Diese Loslösung der „eigenen“ identitätsstiftenden Ereignisse aus ihrem historischen Kontext, ihr durchbrechen lassen in das Zeitgeschehen ermöglicht es dann tatsächlich, den Kraftakt einer Eroberung im 15. Jhd. mit dem Setzen einer Unterschrift unter einen Erlass in 2020 auf eine Ebene zu stellen. Die Eroberung ist heute, die Umwidmungen sind heute, die Revanche dafür kann dann in diesem Denken auch heute genommen werden. Die Frage, ob man 600 Jahre später, 85 Jahre später vielleicht etwas weiter sein könnte im Denken, in der Bewertung der historischen Rückschau oder der tatsächlichen Relevanz historischer Ereignisse für unser heutiges Leben, die interessiert in dieser enthistorisierenden Perspektive nicht mehr. Nur so kann die Anhängerschaft, wie es aktuell in den sozialen Medien geschieht, von einer zweiten Eroberung Istanbuls, von der Befreiung der Hagia Sophia sprechen.
Ein Großteil der Bevölkerung mag der Umwandlung nicht ablehnend gegenüberstehen, eine zentrale Rolle als Sehnsuchtsort in ihrem politischen Denken, selbst bei jungen religiösen Menschen in der Türkei, hat sie schon lange nicht mehr eingenommen. Als „existenzielle“ Forderung wurde die Umwandlung der Hagia Sophia nur noch von einem kleinen, aber harten Kern von nationalistisch und islamistisch ideologisierten Kadern erwartet. Einen Sinn macht dieser Schritt nur mit dem Blick auf die tagesaktuelle Politik und die aktuelle Entwicklung des immer weiter bröckelnden Rückhalts der AKP aber auch Erdoğans in der türkischen Bevölkerung. Ob sich jedoch die innenpolitischen Erwartungen an diesen Schritt wie von der Regierungspartei erhofft realisieren werden – dies kann bezweifelt werden.