Heimat finden im Fremden?

Auseinandersetzungen in der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş e. V. (IGMG) zwischen Ankommen und Fremdbleiben

15 Minuten, 21 Sekunden

Heimat finden im Fremden?

Bestandsaufnahme „Nach dem Islamismus“

Das Innenleben muslimischer Gemeinschaften gehört zu den wenig erforschten Bereichen des muslimischen Lebens in Deutschland. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einerseits fehlt es am Interesse für den eher unspektakulären Alltag in den Gemeinschaften, andererseits ist der Zugang für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in die Binnensphäre der Gemeinschaften keine Selbstverständlichkeit. Hinzu kommt, dass die Gemeinschaften selbst nur bruchstückhaft Einblick in ihr Innenleben gewähren. Nur selten wird auf der Funktionärsebene ein Austausch auf Deutsch gepflegt, jede Kommunikation nach außen würde einen zusätzlichen Übersetzungsprozess notwendig machen.

Dieser Zustand erschwert insbesondere die Möglichkeit einer nachvollziehbaren Analyse der Entwicklungen von Haltungen und Meinungen in bestimmten Gemeinschaften über einen längeren Zeitraum. Für die Auseinandersetzung in der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG) zwischen Ankommen und Fremdbleiben ermöglicht Werner Schiffauers „Nach dem Islamismus“ eine Vergleichsmöglichkeit mit der heutigen Situation. Schiffauers knapp zehn Jahre andauernde ethnographische Studie der IGMG bietet eine nachvollziehbare Bestandsaufnahme des Zustands der IGMG bis zum Jahr 2010 an, auf die im weiteren Verlauf Bezug genommen werden soll.

Schiffauer identifizierte in seiner Arbeit hauptsächlich drei Strömungen innerhalb der IGMG: Post-Islamisten, Aktivisten und Traditionalisten (Schiffauer 2010:356). Die Post-Islamisten hob Schiffauer besonders hervor, da er bei diesen die relevanteste Entwicklung hinsichtlich einer Verortung im Hier und Jetzt feststellte. Den eher Erbakan-treuen Traditionalisten und den neo-osmanisch geprägten und stark Türkei-orientierten jugendlichen Aktivisten prognostizierte er eine zurückgehende Bedeutung.

Als Post-Islamisten bezeichnete Schiffauer eine Generation von Funktionsträgern innerhalb der IGMG, die ihre Sozialisation in Deutschland durchlaufen, dabei die „Stärken und die Schwächen der westdeutschen Demokratie [erlebten] und […] dabei ein ebenso differenziertes wie realistisches Bild dieser Gesellschaft“ erworben haben (Schiffauer 2010:363). Diese brachen mit der politisch-islamistischen Tradition der Traditionalisten (Schiffauer 2010:365) und positionierten sich gegen den neo-osmanischen Blick und die unkritische Rückbesinnung der Aktivisten auf die Türkei (Schiffauer 2010: 353).

Die Post-Islamisten konnten sich im innergemeinschaftlichen Diskurs bis zu einem Punkt durchsetzen. Die Saadet Partei und Erbakan-Treuen trennten sich nur einige Jahre nach der Veröffentlichung von Schiffauers Studie von der IGMG und bauten unter dem Namen „Saadet Almanya“ eine eigene Struktur auf. Auch in der Auseinandersetzung mit Erbakan schienen die Post-Islamisten die Oberhand in der IGMG zu gewinnen.

Während sich die Post-Islamisten noch 2010 weitgehend gegenüber Traditionalisten und Aktivisten durchsetzen konnten, wurde zusätzlicher Widerstand aus der Gruppe der an der Azhar-Universität in Ägypten ausgebildeten Imamen gegen die post-islamistische Linie des damaligen Vorstandes und besonders des Generalsekretariats wahrnehmbar. Diese positionierten sich pragmatisch zwischen Traditionalisten und Aktivisten, sahen die Post-Islamisten als zu stark von ihrer deutschen oder europäischen Sozialisation Beeinflusste an. Die Ablehnung wurde in der Forderung in einem Thesenpapier eines späteren stellvertretenden Vorsitzenden deutlich, der den „Bruch der Hegemonie der Juristen über die Organisation“ forderte. Mit „Juristen“ waren dabei jene Akteure gemeint, die Schiffauer als Post-Islamisten bezeichnete.

Vorstands- und Haltungswechsel in 2011

Die Post-Islamisten mögen sich zur Zeit der Publikation von Schiffauers „Nach dem Islamismus“ zwar gegen das Charisma von Necmettin Erbakan zu seinen Lebenszeiten erfolgreich zur Wehr gesetzt haben, mit seinem Tod verlieren sie aber. Im Februar 2011 benennt Erbakan auf dem Sterbebett Kemal Ergün als neuen Vorsitzenden der IGMG. Gegen den letzten Willen des von noch vielen Funktionären, insbesondere in den Regionalverbänden, als Spiritus Rector angesehenen Erbakan können die Post-Islamisten nicht mehr ankommen. Kemal Ergün kommt aus der Türkei als designierter Vorsitzender zurück und wird auf der nächsten Delegiertenversammlung der IGMG als Erbakans Erbe zum Vorsitzenden gewählt.

Ergün folgt während seiner Amtszeit nicht unbedingt der Saadet-Linie aus der Türkei. Vielmehr versucht er eine Balance sowohl zwischen der AKP als auch der Saadet-Partei aufrecht zu erhalten. „Balance und Harmonie“ werden zu den beiden wichtigsten Losungen seiner Amtszeit werden. Die vormals aus Führungspositionen ausgeschiedenen Saadet-Anhänger kehren in die Gemeinschaft zurück; in den Gemeinden selbst sind jedoch auf der Mitgliederebene AKP-Anhänger in der Mehrzahl. Die Beziehung zu und Zusammenarbeit des neuen Vorstands mit den Post-Islamisten erweist sich als schwierig. Die auf Religionsfreiheit und bürgerliche Rechte aufbauenden Ansprüche an Gesellschaft und Politik der Post-Islamisten (Schiffauer 2010:365) werden von der neuen Führung als „Streit mit dem Staat aus Gründen der Selbstprofilierung“ gewertet und nicht gerne gesehen, die Kritik an innerverbandlichen und islamistisch-aktivistischen Positionen als persönliche Angriffe wahrgenommen. Die Post-Islamisten auf den unterschiedlichen Ebenen der IGMG werden in den folgenden Jahren weitgehend aus ihren Funktionen in der Zentrale, in den Regionalverbänden und schließlich in den Gemeinden gedrängt oder ziehen sich von sich aus ins Private zurück.

Das Bedürfnis nach Balance und Harmonie in der Gemeinschaft führt dazu, dass öffentliche, eindeutige und klare Positionierungen des IGMG-Vorstands weitgehend ausbleiben. Jede Positionierung birgt die Gefahr, dass jeweils die eine oder andere Strömung innerhalb der IGMG diese als konfliktstiftend wahrnimmt. Die vom vorhergehenden Vorstand erklärte Unvereinbarkeit des Aktivseins in der Saadet-Deutschland-Bewegung mit einer Funktionsübernahme in der IGMG wird dagegen nicht mehr umgesetzt.

Zudem rückt der „Herkunftslandbezug“ erneut stärker in das Zentrum des Selbstverständnisses der IGMG. Während in der Vergangenheit die Gemeinschaft die Diyanet, die Religionsbehörde in der Türkei, als Werkzeug zum Missbrauch des Islam durch einen laizistischen Staatsislam abgelehnt hatte, kommen in dieser neuen Ära erstmals seit der Gründung der IGMG von der Diyanet entsandte Imame in den Gemeinden zum Einsatz. Bildungseinrichtungen der IGMG oder ihr nahestehende Institutionen ordnen sich dem türkischen Curriculum unter, um den eigenen Absolventen mit Genehmigung des türkischen Bildungsministeriums ein Imam-Hatip-Diplom anzubieten.

Gleichzeitig werden in der Türkei erstmals auch eigene Institutionen gegründet, vom selbstständig agierenden Ableger des der IGMG nahestehenden humanitären Hilfsvereins Hasene bis hin zur Bildung von Stiftungen und wirtschaftlichen Unternehmen.

Schwindende öffentliche Wahrnehmung

Diese Entwicklungen an der Spitze der IGMG wirken sich nicht nur auf das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Strömungen aus, sie werden besonders im öffentlichen Auftreten und der öffentlichen Wahrnehmung der Gemeinschaft sichtbar.

Die post-islamistische Positionierung wurde vom „neuen“ Vorstand als zu „deutsch“ und „konfliktorientiert“ abgelehnt. Der Saadet-Partei und der AKP wurde zwar keine Möglichkeit zur Agitation gewährt, bestehende Unvereinbarkeits-Regelungen bezüglich einer aktiven Funktion in diesen Parteien und der Besetzung von IGMG-Ämtern wurden aber faktisch nicht mehr umgesetzt. Zuvor in die „Saadet Almanya“ abgewanderte Funktionäre konnten wieder wichtige Funktionen innerhalb der IGMG übernehmen, gleichzeitig wurde aber auch nach Wegen gesucht, das Wohlgefallen der türkischen AKP zu gewinnen.

Spende_Maerthyrer-Fond Spende an den Märtyrer-Fond des türkischen Familienministeriums im Oktober 2016 (v.l.n.r: H. Çiftçi, stellv. Vorsitzender IGMG; M. Yeneroğlu, AKP-Abgeordneter, ehem. IGMG Generalsekretär; F. Kaya, türkische Familienministerin; C. Yalınkılıç, stellv. IGMG Vorsitzender)

Das öffentliche Auftreten wurde damit zu einem Minenfeld für die IGMG. Jede öffentliche Erklärung war dazu geeignet, eine der nun wieder harmonisch unter dem Dach der IGMG vereinten Strömungen vor den Kopf zu stoßen. Bis auf die Post-Islamisten erwarteten diese Strömungen auch kaum öffentliche Äußerungen. Verlautbarungen in die deutschsprachige Öffentlichkeit wurden nur dann wahrund ernstgenommen, wenn sie auch in türkischer Übersetzung vorlagen. Die Kritik der Post-Islamisten drang nur noch selten zum Vorstand durch.

In der Folge zog sich die IGMG weitgehend aus deutschsprachigen öffentlichen Diskursen zurück. Die Schere zwischen dem innerverbandlichen Diskurs und den öffentlichen Diskursen öffnete sich.

Anhand der Auswertung der deutschsprachigen Pressemitteilungen des Verbandes und der medialen Berichterstattung über den Verband vom 15. Juli 2020 bis zum 15. Juni 2021 wird der Abstand zwischen innerverbandlicher und externer Öffentlichkeit deutlich.

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36 von 1785 Beiträgen zu Islamthemen zwischen Juli 2020 und Juni 2021"


In den Medien erscheinen auffallend wenig Beiträge über die IGMG. In einer Sammlung von 1785 Artikeln aus online-verfügbaren Beiträgen zum Themenfeld „Islam und Muslime in Deutschland“ erwähnen lediglich 36 Beiträge die IGMG. Davon stammen neun aus Publikationen der IGMG selbst. 20 der Beiträge führen den Verband im Rahmen der Diskussionen um einen „politischen Islam“ auf. Jeweils zwei behandeln die Themen Antisemitismus und Betrug, jeweils ein Beitrag die Themen Diskriminierung und Religionspolitik. Nur einmal findet eine Erwähnung in einem positiven Kontext statt.

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Pressemitteilungen der IGMG von Juli 2020 bis Juni 2021


In den deutschsprachigen Pressemitteilungen der IGMG im selben Zeitraum findet sich eine ganz andere Welt wieder. Acht der Beiträge behandeln das Thema Diskriminierung, davon fünf als Kommentierungen von Gerichtsurteilen oder konkret laufenden oder abgeschlossenen Gesetzgebungsverfahren, ein Beitrag befasst sich mit dem Attentat in Hanau, ein weiterer mit dem medialen Umgang mit der IGMG. Sieben Beiträge können im Themenfeld „internationale Politik“ eingeordnet werden, fast jedes Mal gehtves darin um Flucht auf internationaler Ebene, die Uiguren und einmal die Rohingya. Die weiteren Häufigkeiten sind: Rechtsextremismus (5 Beiträge), religiöse Festtage (4), die Corona-Pandemie (3), Religionspolitik (3), Verurteilungen von Anschlägen (2) sowie Innenpolitik (1), Religionsfreiheit (1) und Entwicklungen im Verband (1). Lediglich zwei Beiträge können als positives Agendasetting, als positive Besetzung eigener Themen, angesehen werden.

Die mediale Berichterstattung über die IGMG und die Verlautbarungen der IGMG stimmen nicht überein. Es wirkt, als würde der Verband nicht wahrnehmen, wie er in der Öffentlichkeit dargestellt wird. Der Verband bietet auch keine eigene, alternative Darstellung an. Aus den Presseerklärungen der IGMG erfährt man nicht, was die IGMG ist und was sie tut. Nur in zwei von 37 Pressemitteilungen wird versucht, die Arbeit in den Gemeinden als positiven, gesamtgesellschaftlichen Beitrag mit der Öffentlichkeit zu teilen: Eine Erklärung thematisiert am Weltwassertag den reduzierten Wasserverbrauch in Moscheen, in einer zweiten Mitteilung wird der Tag der offenen Moschee beworben.

Positionierungen zu laufenden Diskursen oder sogar das Anstoßen eigener öffentlicher Diskurse sucht man vergeblich. Selbst die drei Beiträge zur Religionspolitik greifen nur eine veröffentlichte Studie zum muslimischen Leben in Deutschland, ein Urteil zum islamischen Religionsunterricht in Hessen und die (nicht gerade neue) Forderung nach religiöser und kultureller Vielfalt in Schulbüchern auf. Ob die IGMG Entwicklungen im deutschsprachigen Raum außerhalb von Diskriminierung, Rechtsextremismus und den wenigen Beiträgen zu Religionspolitik und -freiheit mitbekommt, das erfährt man anhand ihrer Presseerklärungen nicht.

IGMG als nicht-homogener Verband

Die IGMG und ihre Vorläufer waren zu keinem Zeitpunkt homogene Verbände. Es gab sowohl große Unterschiede zwischen den Gemeinden, aber auch zahlreiche Ungleichzeitigkeiten hinsichtlich des jeweiligen Status von Haltungen und Mentalitäten. Mit dem Vorstandswechsel von 2011 wurde jedoch deutlich, dass es eine tiefgehende Bruchlinie gab, dessen entscheidendes Kriterium die Herkunftslandorientierung war. Davon ausgehend können für die Zeit nach 2011 vier Strömungen identifiziert werden, von denen die ersten beiden in einer Auseinandersetzung miteinander standen:

  1. Eine abnehmende Zahl von post-islamistischen Funktionären
  2. Herkunftslandorientierte Funktionäre
  3. „Dış İlişkiler“-Personal als Brücke zur Mehrheitsgesellschaft
  4. Das „normale“ Gemeindemitglied

„Post-Islamistische“ Funktionäre

In der Bestandsaufnahme wurde bereits festgestellt, dass die post-islamistischen Funktionsträger auf den unterschiedlichen Ebenen (Gemeinden, Regionalverbände, Zentrale) von der neuen Führungsriege als zu „verdeutscht“ wahrgenommen wurden. Die ständige Selbstkritik am Verband und das Hinterfragen von Entwicklungen wurde als Angriff auf den Führungsanspruch des Vorstandes verstanden. Dieser wurde mittlerweile führend von Studienfreunden von Kemal Ergün besetzt, mit denen er an der ägyptischen Azhar-Universität studiert hatte und die, wie er, als Imame im Verband ihre Laufbahn begonnen hatten. Zahlreiche neue Regionalverbandsvorsitzende kamen ebenfalls aus diesem Pool. Der „Bruch der Hegemonie“ der Post-Islamisten wurde damit bis auf die Gemeindeebene getragen.

Im Rahmen der Zielsetzung einer weitgehenden Harmonie im Verband waren die Post-Islamisten störende Elemente im Verband. Ein wiederkehrender Vorwurf ihnen gegenüber war das Hineintragen von „Unruhe“ bis hin zur „Fitna“, also Zwietracht, in die Gemeinschaft. Die Folge dieser Zurückweisung auf mehreren Ebenen war der Rückzug zahlreicher post-islamistischer Akteure in ihren eigenen privaten Bereich und das Niederlegen ihrer Ämter in der IGMG.

Herkunftslandorientierte Funktionäre

Bei den herkunftslandorientierten Funktionären ist das einende Element die Orientierung an den Entwicklungen und die Identifikation mit Führungsfiguren oder Institutionen in der Türkei. Dabei macht es zumindest in der Abgrenzung zu den Post-Islamisten keinen Unterschied, ob die Hinwendung zur AKP oder zur Saadet-Partei stattfindet. In den Gemeinden überwiegt bei den aktiven Mitgliedern eher die Hinwendung zur AKP, während man auf der Regionalverbandsebene eher Anhänger der Saadet-Partei findet.
Dies hat sicherlich auch mit der Rückkehr der Saadet-Anhänger in die IGMG Strukturen zu tun, die sie vormals aus Protest gegenüber den Post-Islamisten, diesen Verrat an der Sache Erbakans vorwerfend, verlassen hatten.

Der Bezugs- und Identifikationspunkt liegt bei diesen Funktionären in der Türkei. Die Legitimität von Ideen und Positionen wird aus ihrer Herleitbarkeit aus einer sehr weit gefassten nationalen Identität gesehen, die weitgehend personalisiert, also in der Person einer Führungsfigur konzentriert sind. Das Wirken der Gemeinschaft und in der Gemeinschaft muss sich an diesem Maßstab messen, die Authentizität im Auftreten ist gekoppelt an die Fähigkeit, die Codes der herkunftslandbezogenen Bezugsgruppe zu reproduzieren.

Selbst in der Prämisse „Mit dem Staat streitet man nicht“ gibt es eine Priorisierung des Herkunftslandes. Bei Interessenkonflikten zwischen den Ländern sind es stets die Türkei und die Akteure dort, deren Wohlgefallen gesucht wird. Während es hier weitgehend um die Wahrung von institutionellen Interessen geht, geht es dort auch um die Wahrung persönlicher Interessen und Zukunftsambitionen. Denn die eigene Zukunft wird weiterhin in der Türkei gesehen. Die Zunahme der Etablierung von neuen, finanzkräftigen gemeinschaftsnahen Institutionen in der Türkei dürfte auch als eine Art von persönlicher Zukunftssicherung gesehen werden. Die Option einer Zukunft in der Türkei hat sich für einige Funktionäre bereits jetzt schon realisiert.
Die weitgehende institutionelle Unabhängigkeit der in der Türkei aufgebauten Institutionen, die über personelle Verflechtungen funktionieren, bietet eine Perspektive auch unabhängig von der Frage an, wer das Ruder innerhalb der IGMG in Zukunft übernehmen wird.

„Dış İlişkiler“-Personal als Brücke zur Mehrheitsgesellschaft

In dem Bereich „Dış İlişkiler”, also “Äußere Beziehungen”, sind traditionell die Abteilungen in den Regionalverbänden und Gemeinden zusammengefasst, die für die Öffentlichkeitsarbeit und institutionelle Vertretung der Gemeinschaft zuständig sind. Sie sind in der Hierarchie des Verbandes mit dem Generalsekretariat verbunden. Es mag an der Tätigkeit in diesem Bereich liegen, dass sehr viele Post-Islamisten im Verband in ihrem Werdegang aus der Öffentlichkeitsarbeit kamen oder dorthin gefunden haben. Jedoch blieben sie nicht in diesem Bereich, sie übernahmen mit der Zeit auch vielfältige andere Aufgaben. Dies änderte sich in den Jahren nach dem Vorstandwechsel von 2011. Der Bereich „Dış İlişkiler” wurde für viele Post-Islamisten erst zum Rückzugsort in der Verbandshierarchie, in dem sie noch geduldet und gebraucht wurden. Für viele war der Bereich „Dış İlişkiler” aber auch der Ausstiegspunkt, da die Zusammenarbeit mit den herkunftslandorientierten Funktionären gerade im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit für Konflikte und „Unruhe“ sorgte.

Mittlerweile sind auch diese Ämter weitgehend mit Funktionären besetzt, die eine Nähe zu den Herkunftslandorientierten haben oder zumindest desinteressiert an dieser Verortung sind und damit keine internen Kontroversen auslösen können. Sie sind meist die verbliebenen wenigen deutschsprachigen Aktiven in den unterschiedlichen Vorstandsebenen. Der Verband hat damit paradoxerweise trotz Voranschreiten der Zeit die Sprachfähigkeit in die Mehrheitsgesellschaft aber auch zu anderen muslimischen Verbänden ohne türkischen Herkunftslandbezug verloren.

Den aktuellen Funktionären in diesem Bereich wird nur noch eine sprachliche Vermittlerrolle ohne eigene Gestaltungsmöglichkeiten zugestanden. Sie sollen übersetzen, aber weder das Verbandsinnere nach außen tragen noch die Probleme und Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft in den Verband hineintragen.

Das „normale“ Gemeindemitglied

Das „normale“, einfache Gemeindemitglied bleibt von diesen Diskursen weitgehend unberührt. Die überwiegende Mehrheit der Moscheebesucher nutzt die Moschee als Infrastruktur zur Mindestbefriedigung von individuellen und gemeinschaftlichen religiösen Bedürfnissen. Die Moschee wird für die Verrichtung der Freitags- und Festtagsgebete genutzt, vielleicht wird einmal in der Woche noch an einer religiösen Predigtrunde teilgenommen, die Kinder in den Religionsunterricht gesandt. Die religiöse Zugehörigkeit wird dabei zur Moschee vor Ort aufgebaut, nicht unbedingt zu einem Verband. Bei einem besseren Imam, einem besseren Religionsunterricht, aber auch besserer baulicher Infrastruktur ist ein Wechsel der Moscheegemeinde keine Seltenheit, sondern von Moscheevorständen eher gefürchtete Regel.

Aktuelle Auswirkungen

Der Rückzug der Post-Islamisten und das erneute Erstarken der Herkunftslandsorientierten hat konkrete Auswirkungen auf das Wirken der IGMG in Deutschland. Die IGMG hat sich aus öffentlichen Diskursen, auch in religionspolitischen Bereichen, weitgehend zurückgezogen. Während sie sich in den von Werner Schiffauer beschriebenen Jahren trotz der Verfassungsschutzberichterstattung über den Verband mit Inhalten und Positionen Gehör verschaffen konnte, sind solche Positionen trotz des weitgehenden Fehlens der Verfassungsschutzproblematik heute entweder nicht vorhanden oder nicht wahrnehmbar.

Die Entwicklung von Ideen und Konzepten bezüglich der Verortung von Muslimen im Hier, in der Gegenwart und in der Zukunft bleibt aus. In öffentlichen Verlautbarungen mag der Vorsitzende Ergün zwar immer wieder auf Türkisch „buralıyız” (türkisch „hier Zuhause“) sagen, die persönlich-mentale Verortung der Führungsriege in der Türkei gibt indes kaum Raum für die Entwicklung kreativer Ideen für das hiesige Leben.

Diese Haltung wirkt sich ebenfalls auf die Verortung der Gemeinden in den lokalen Kontexten aus. Bei „Problemen im Zusammenleben“ können Zentrale und Regionalverbände kaum Unterstützung in Form von eigenen Inhalten und Positionen anbieten. Die Gemeinden stehen immer häufiger vor der Alternative, das von außen an sie Herangetragene unkritisch zu übernehmen oder sich aus den lokalen, insbesondere kommunalen Kontexten zurückzuziehen.

Eine Möglichkeit der Diskussion über die Erwartungen der Umwelt und der Bedarfe der Gemeinde besteht im innerverbandlichen Kontext kaum noch. Mit dem Ausscheiden der Post-Islamisten hat die IGMG auch zu einem großen Teil das Personal für die Grundsatzarbeit nach innen und außen verloren.

Die Gemeinden können in der Folge nach außen nur gehemmt auftreten. Auch nach innen gegenüber den Gemeindemitgliedern können sie keine Positionen zu Fragen des gesamtgesellschaftlichen Zusammenlebens formulieren.

Dem Verband bleibt damit nur noch der Rückzug auf ihre religiösen Kernangebote mit einem weitgehend zurückgehenden sozialen Anspruch. Zumal selbst die bestehende soziale Arbeit, wie zum Beispiel die Jugendarbeit oder die humanitäre Hilfe, in herkunftslandorientierter Form umgesetzt wird.

Bedeutung für die Zusammenarbeit mit Gemeinden

Der Wegfall einer ganzen Funktionärsgeneration mit Beheimatungsperspektive und -anspruch im Hier und Jetzt erschwert die Kommunikation der Gemeinden der IGMG mit anderen zivilgesellschaftlichen und staatlichen Akteuren. Gemeinden haben, wie der gesamte Verband, Schwierigkeiten damit, eigene Positionen, Angebote und Bedarfe in einer Form zu artikulieren, die über die eigenen Verbandsgrenzen hinweg verstanden werden können.

Die Gefahr für die IGMG besteht dabei – gerade mit Blick auf die früher bundesweit, heute nur in einigen Bundesländern bestehende Verfassungsschutzberichterstattung – weniger darin, dass der Verband von Islamisten übernommen wird. Viel eher setzen sich an hiesigen, gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen desinteressierte, herkunftslandorientierte Funktionsträger in den Ämtern fest. Dies macht den Verband jedoch nicht nur für die
mittlerweile als gescheitert anzusehenden Post-Islamisten unattraktiv, sondern auch für mögliche neue und junge Funktionsträger, die sich nicht unbedingt über die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen oder politischen Gruppe in der Türkei definieren wollen.

Gesamtgesellschaftlich ist die Herausforderung im Umgang mit den Gemeinden, dass die Nicht-Ansprache und der Nicht-Kontakt im Umgang mit diesen Gemeinden gerade die Herkunftslandorientierten und am gesamtgesellschaftlichen Zusammenleben Desinteressierten stärkt. Diese werden in ihrer Ablehnung der hiesigen Gesellschaft nur bestärkt. Ihre These der kulturellen Unvereinbarkeit mit dem Westen, eine dem Ethnopluralismus sehr ähnelnde Vorstellung von Gesellschaft, wird ihrer Meinung nach in der Praxis sogar bestätigt. Dagegen würde die kritische Ansprache der Gemeinden und das nicht „Abwimmeln“ lassen, die Ohnmacht und Konzeptlosigkeit dieser Akteure auch im innerverbandlichen Kontext zum Vorschein bringen.

Literatur:
Werner Schiffauer: Nach dem Islamismus. Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs. Eine Ethnographie, Berlin 2010.

Dieser Beitrag ist im Rahmen eines Vortrags für die Fachstelle Extremismusdistanzierung der Landesarbeitsgemeinschaft Mobile Jugendarbeit/Streetwork Baden-Württemberg e. V. entstanden und wurde unter dem Namen "Heimat finden im Fremden? Auseinandersetzungen in der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş e. V. (IGMG) zwischen Ankommen und Fremdbleiben" im Juli 2022 veröffentlicht.

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