In einer Zeit, in der viel und schlecht über den Islam und die Muslime diskutiert wird, tut es gut, ein Werk wie das vor kurzem im Verlag der Weltreligionen erschienene Werk „al-Nawawi: Das Buch der Vierzig Hadithe“ zu lesen.
Mit der Entscheidung des namhaften deutschen Hauses Suhrkamp/Insel, einen solchen Verlag zu gründen, wird endlich die Möglichkeit geschaffen, durch detailliert kommentierte und neu übersetzte grundlegende Texte der Religionen – und eben auch des Islams – eine Innenansicht der jeweiligen religiösen Tradition zu gewinnen.
Nun mangelt es aber nicht an Publikationen über die Religion des Islams, insbesondere seit der Islam immer mehr mit aktuellen Themen der Politik in Verbindung gebracht wird. Es stellt sich deshalb die Frage, was denn speziell dieses vom Kölner Islamwissenschaftler Marco Schöller übersetzte und herausgegebene Werk ausmacht.
Dazu muss zuerst festgestellt werden, dass es trotz der Vielzahl der Publikationen nur sehr wenige Übersetzungen grundlegender islamischer Texte gibt, die auch jedermann zugänglich sind. Mit Leichtigkeit wird man eine mehr oder weniger gute Koranübersetzung finden können, doch schon bei der zweiten Quelle des Islams, dem Hadîth, fängt das Problem an. Denn obwohl der Islam ohne Hadîthe nicht zu denken wäre, ist es meist so, dass die Übersetzungen, die bei den wenigen islamischen Verlagen erscheinen, nur die islamische Innensicht darstellen und somit eher an deutschsprachige Muslime gerichtet sind. Mit dieser Innensicht kann aber der nicht-muslimische Leser nur wenig anfangen und wird eher abgeschreckt. Im weitesten Sinne ist dies ein Problem der deutschen öffentlichen Wahrnehmung des Islams und seiner Lehre. Andererseits gibt es ebenso viele zum Teil akademische Publikationen, die sich immerhin auf die Primärquellen ihres Gegenstandes berufen. Diese haben aber das große Manko, eben nicht von den Quelltexten auszugehen, sondern aus der Vielfalt der Meinungen der islamischen Tradition die ihnen passende Aussage herauszupicken.
Mit dem von ihm herausgegebenen Buch, das durch philologische Gründlichkeit und Genauigkeit beeindruckt und in dieser Form einmalig ist, zeigt Marco Schöller, wie eine Innenansicht des Islams ermöglicht werden kann, ohne sich dabei in Polemik zu verfangen und doch kritische Themen – aber eben im Kontext der islamischen Selbstwahrnehmung – nicht auszusparen. Dabei geschieht dies nicht durch schwerfällige theologische Diskussionen, sondern durch eine alltagsnahe und reale Darstellung der ständigen Beziehung von Koran und Sunna sowie der Alltagsfrömmigkeit der muslimischen Gesellschaft. Diese Lebensnähe ist es nämlich, die einen Hadîth ausmacht.
Mit dem Werk „Kitâb al-Arab’în“ des Damaszeners Imâm al-Nawawi (1233-1277), der durch dieses kleine Werk in der damaligen islamischen Welt berühmt geworden ist, und mit ihm die Gattung der Vierzig Hadîthe ihren Höhepunkt erreicht hat, hat man eine gute Entscheidung getroffen. Denn hierbei handelt es sich laut al-Nawawi „um vierzig Hadithe, die alle genannten Themen vollständig umfassen, und jeder dieser Hadithe ist ein Grundpfeiler der Religion. Von jedem dieser Hadithe haben Gelehrte verschiedentlich gesagt, er sei der Dreh- und Angelpunkt des Islams oder er enthalte die halbe Glaubenslehre des Islams oder ein Drittel davon oder etwas dergleichen.“ (S. 11) Diesem Anspruch wird al-Nawawi auch gerecht, denn die ausgewählten Hadîthe behandeln Themen wie die Intention, die Vorherbestimmung, das Spenden vom „Guten“, die Scham, die Schädigung und seine Wiedergutmachung, den Eid, usw., wobei sich von diesen Hadîthen viele unscheinbare Regelungen ableiten lassen.
Angefügt an die Übersetzung der Hadîthe sind der Kommentar al-Nawawis, seines Zeitgenossen aus Kairo Ibn Daqîq al-‘Îd sowie der Stellenkommentar Schöllers, wodurch man eine Vorstellung des Zusammenhangs der Aussagen des Gesandten Gottes und deren oft ungeahnte Vielschichtigkeit und Weitläufigkeit bekommt. So kann man lesen, welche lebhaften Diskussionen der im Grunde eindeutige Hadîth „… Was ich euch untersagt habe, das vermeidet! Was ich euch befohlen habe, so führt davon aus, was ihr vermögt! Das, was diejenigen zugrunde gehen ließ, die vor euch kamen, war nur die Vielzahl ihrer Fragestellungen und ihre Kontroverse mit den Propheten, die zu ihnen gekommen waren.“ (H. 9, S. 90) unter den Gelehrten auslöste oder welche große religiöse und soziale Bedeutung dem Konzept der „Nasîha“ (aufrichtiger Rat) im Hadîth „Religion ist aufrichtiger Rat…“ (H. 7, S. 77) zukommt.
Ein kleiner Nachteil dieser Fülle von Kommentaren und Bemerkungen ist, dass der Lesefluss des ansonsten sehr leserlichen Textes leiden muss. Während die Übersetzungen und Kommentare al-Nawawis und Ibn Daqîq al-‘Îds noch recht flüssig zu lesen sind, bereiten die vielen Hinweise und Details im Stellenkommentar Schwierigkeiten und verleiten zum Überlesen. An einigen Stellen der Übersetzung muss man auch fragen, ob die Verwendung eines original islamischen Begriffs mit der entsprechenden Umschreibung die ursprüngliche Bedeutung nicht eher treffen würde und einprägsamer wäre. So wäre es angebracht, statt Gott-Gedenken „dhikr“, statt Für-Wahr-Erklären „tasdîq“ oder statt Dienst-an-Gott einfach „’ibâda“ zu schreiben.