Dilettantismus oder was die muslimische Gemeinschaft Besseres verdient hat

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Lange sind die Zeiten vorbei, als noch eine gemeinsame Pressekonferenz der muslimischen Gemeinden zum Beispiel zum Thema der Gewissensprüfung in Baden-Württemberg (08. Februar 2006 in Köln) einen ganzen Saal mit Journalisten füllen und nicht nur in der regionalen, sondern auch in der überregionalen Presse Niederschlag finden konnte. Lange ist es auch her, dass die Entwicklungen innerhalb der muslimischen Community regelmäßig Platz auf Seite 3 der großen Tageszeitungen finden konnten, ob es um den Koordinationsrat der Muslime oder Positionen in der Deutschen Islamkonferenz ging. Mittlerweile bekommt die Öffentlichkeit kaum mit, dass muslimische Repräsentanz nicht nur in Deutschland sondern auch auf europäischer Ebene um ihre Wahrnehmung und Existenz fürchten muss.

Auflösungstendenzen muslimischer Repräsentanz

Bereits Mitte der 2010er Jahre wurde die bis dahin wirkmächtigste muslimische Vertretungsstruktur, die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ) unter der Ägide des Staatssekretärs für Integration und späteren Außenministers Sebastian Kurz unter dem Vorwand der Reformierung bis hin zu ihrer Rechtspersönlichkeit entkleidet. Akteure innerhalb der IGGÖ trugen im Rahmen so mancher Vorfälle dazu bei, dass die öffentliche Wahrnehmung der nun IGGÖ genannten Glaubensgemeinschaft weiter in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Tragischer endete die Vertretungsstruktur der französischen Muslime, dem „Kultusrates der französischen Muslime“ (CFCM). Nach heftigen Auseinandersetzungen um die Vereinbarung einer "Charta der republikanischen Werte" als Folge eines von der CIMG angeführten plötzlichen Rückziehers, Skandalen um marokkanische Geheimagenten in der CFCM und Auseinandersetzungen mit der Milli Görüs in Frankreich, erklärte der französische Innenminister die CFCM als staatlichen Ansprechpartner "für tot" und wandte sich stattdessen direkt an die muslimische Basis.

Belgien: Dilettantismus, Intransparenz und ausländische Beeinflussung

Mitte September 2022 erklärte nunmehr der belgische Justizminister Vincent Van Quickenborne in einer Pressemitteilung die Anerkennung der "Exekutive der Muslime Belgiens" (EMB) für widerrufen. Forderungen zu mehr Transparenz, Repräsentativität und Unabhängigkeit von den Herkunftsländern seien nicht gehört worden. Die Amtszeit der amtierenden Vorstandsmitglieder sei bereits vor zweieinhalb Jahren abgelaufen, die Entscheidungen würden nur noch von wenigen verbliebenen Mitgliedern getroffen. Trotz mehrerer Zusagen sei auch weiterhin keine demokratische Wahl in Sicht, so der Minister.

Die kurz Exécutif genannte Vertretung besteht bereits seit 1999 und gehört damit mit zu den ältesten muslimischen Vertretungsorganen, die in dieser Funktion auch direkter Ansprechpartner des Staates und der jeweiligen Regierungen gewesen ist. Neben der Anerkennung von Moscheegemeinden lag die Organisation des Religionsunterrichts, die Ausbildung und Ernennung von Imamen und die Errichtung von islamischen Grabstätten im Aufgabenbereich der Exécutif. Mit der staatlichen Anerkennung der Organisation war eine jährliche Subvention in Höhe von 600.000 € verbunden. Imame in anerkannten Moscheen und Religionslehrer wurden mit staatlichen Geldern finanziert.

Die Entscheidung des Justizministers dürfte zumindest in Belgien nicht überraschend gewesen sein. Das Verfahren zum Widerruf der Anerkennung hatte Van Quickenborne bereits im Februar 2022 eingeleitet. Neben Intransparenz, unklaren Strukturen und einer starken Einmischung aus der Türkei und Marokko, wurde der Vorsitzende Mehmet Üstün in einem Bericht der Staatssicherheit mit Extremismus in Verbindung gebracht - eine Zurechnung, die auch für deutsche Verhältnisse problematisch ist, da Üstün aus dem belgischen Landesverband der IGMG stammt und auch Vorsitzender einer Milli Görüş-Moschee ist.

Van Quickenbornes Worte zum Widerruf der Anerkennung waren dramatisch: "So einen Dilettantismus habe ich noch nie erlebt. Und das noch in einer Organisation, die für die muslimische Gemeinschaft in unserem Land eine entscheidende Rolle spielt. Die muslimische Gemeinschaft hat etwas besseres verdient, weshalb ich mich entschieden habe, dem EMB die Anerkennung zu entziehen."

Exécutif: Fassungslos und allein gelassen

Der Vorsitzende der Exécutif, Mehmet Üstün, reagierte noch am selben Tag auf den Widerruf der Anerkennung seiner Organisation. Man sei fassungslos über das Verhalten. Die Äußerungen des Justizministers seien "falsch, beleidigend und diffamierend".

Den Vorwurf der verschleppten Vorstandswahl wies Üstün mit dem Hinweis zurück, dass die Neuwahlen für Dezember 2022 bereits in der Planung wären. Man stehe auch nicht einer Erneuerung der Exécutif entgegen, die vom Minister in vorherigen Verhandlungen gestellten Bedingungen seien alle akzeptiert worden. Im Juli 2022 hätte man Klage gegen das Ministerium eingereicht, da der Minister seit Monaten die Auszahlung der Förderung an die Exécutif verweigere.

Zudem führt Üstün in seiner Erklärung mit Blick auf die Wahlen an, dass man das Wahlalter auf 18 festlegen werde, gewählt werden könne man aber erst mit 25. Die ethnische Herkunft solle keine Unterscheidungskriterium bei Wahlmitteilungen sein. Sollten im Wahlverfahren keine Experten oder Frauen in den Vorstand gewählt werden, dann solle jeweils mindestens eine Frau und ein Experte in das Gremium nachberufen werden. Man verzichte nun doch auf die Verpflichtung, einen finanziellen Beitrag für die Wahlbeteiligung zu fordern.

Dem Minister wird weiterhin vorgeworfen, dass er direkt nach der Feststellung seiner zu großen Einmischung in die Geschäfte der Exécutif durch ein belgisches Gericht, den Status der Institution widerrufen habe. Enttäuscht zeigt sich Üstün auch von der Tatenlosigkeit der belgischen Bundesregierung. Das hänge wohl damit zusammen, dass der Justizminister die Exécutif derart erniedrigt, beschuldigt und diffamiert habe, dass niemand mehr bereit wäre, die Institution zu verteidigen.

Innermuslimische Kritik an der Exécutif

Justizminister Van Quickenborne ist jedoch nicht der Einzige mit Kritik an dem Vertretungsorgan. Kritische Stimmen gibt es auch in der muslimischen Community in Belgien. So wurden Vorwürfe bezüglich der fehlenden Transparenz innerhalb des Exécutif und Missbrauch von Finanzmitteln bereits von früheren Mitgliedern vorgebracht. Van Quickenborne habe dann diese Vorwürfe zum Anlass genommen, um seinen strengen Kurs gegenüber der EMB zu rechtfertigen. So würden bereits seit einiger Zeit Anträge zur Anerkennung von Moscheegemeinden nicht mehr bearbeitet.

Kritisiert wird zudem auch ein auffälliger Absentismus von offiziell berufenen und aus staatlichen Mitteln bezahlten Imamen. So hätten sich Imame nach ihrer Berufung nicht mehr in der berufenen Moscheegemeinde blicken lassen, ohne dass es arbeitsrechtliche Konsequenzen gab. Beschwerden aus den Gemeinden an die Exécutif sollen dort nicht weiterverfolgt worden sein.

Als Ursache für diese Missstände wird von innermuslimischen Kritikern der fehlende Bezug der Exécutif-Leitung zur Basis angeführt - eine Kritik, die auch von Van Quickenborne formuliert wird. Verstärkt wäre diese Loslösung mit der Bildung eines Netzes von Amtsträgern unter den Religionslehrern, Prüfern und Predigern, die vermehrt aus dem eigenen Bekannten- und Familienkreis führender Persönlichkeiten besetzt worden sein sollen. Ausschreibungen für neue Stellen würden die Gemeinden nicht erreichen und unter der Hand vergeben werden.

Mängel in der muslimischen Repräsentanz: ein europäisches Problem

Muslimische Repräsentanz ist schon lange mehr kein landesspezifisches Thema, zumal viele hiesigen muslimischen Gemeinschaften europaweit organisiert sind oder über Strukturen in den Herkunftsländern ihrer Mitglieder miteinander verbunden sind. Insofern dürfte es nicht überraschen, dass Probleme in der Funktionalität und Struktur der Gemeinschaften sich nicht auf einzelne Länder beschränken.

Die 2000er Jahre waren zwar einerseits geprägt von den Auswirkungen und Nachwehen der Anschläge vom 11. September, sie waren aber auch geprägt von einer Aufbruchstimmung der Kooperation und Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Gemeinschaften. Gerade der entstandene Druck auf muslimische Gemeinschaften nach 9/11 schien einerseits dabei zu helfen, innermuslimische Grenzen zu überwinden, andererseits wurde selbst den bis dahin verschlossensten Gemeinschaften bewusst, dass es keine Alternative zur Öffnung hin zur Gesamtgesellschaft gab.

Die IGGiÖ in Österreich, der CFCM in Frankreich, der Exécutif in Belgien, aber auch der KRM und die Schuren auf Landesebene in Deutschland oder die "Staatsverträge" in Hamburg und Bremen, sie waren in der einen oder anderen Form Kinder dieser Entwicklung. Nun, fast 20 Jahre nach ihrer Geburt, stehen viele dieser Institutionen vor der Daseins- und Sinnfrage. An eine Weiterentwicklung der Statusfrage ist kaum mehr zu denken.

Verbandsstrukturen vs muslimische Präsenz

Die Lösung der Statusfrage war aber einer der Hauptgründe für die Entstehung der Bremer und Hamburger "Staatsverträge" mit den dortigen muslimischen Gemeinschaften. Nach zehn Jahre sollte eine erneute Bewertung durch die Vertragspartner vorgenommen werden. Man hoffte, dass in diesem Zeitraum die Institutionalisierung und Professionalisierung der Strukturen soweit vorangeschritten wäre, dass der Vertrag mit der Verleihung von Körperschaftsrechten abgelöst werden könnte. Murat Kayman hat am Beispiel des Hamburger Vertrags herausgearbeitet, dass mittlerweile selbst die Fortführung des aktuellen provisorischen Zustands kaum begründet werden kann.

Für die aktuellen muslimischen Verbandsstrukturen im Geiste der 80er und 90er Jahre war die Zeit von möglichen, funktionierenden, die Interessen der muslimischen Basis vertretenden und am gesamtgesellschaftlichen Leben teilhabenden Religionsgemeinschaften mit dem Ende der ersten Aufbruchstimmung in der Mitte der 2010er Jahre bereits abgelaufen. Zu stark und zu bestimmend ist die ethnische Segregation der Muslime in Europa nach Sprachen und Herkunftskontexten, nach strukturellen oder identitären Rückbindungen an die Herkunftsländer in das Selbstverständnis dieser Strukturen eingeschrieben.

Die Nicht-Zugehörigkeit zur Zivilgesellschaft und das Selbstverständnis als Kulturwahrer unter Einsatz der Religion sind in der eigenen Wahrnehmung nicht Fehler sondern Funktionen dieser Verbandsstrukturen. Eine fehlende Fortentwicklung in Richtung Beheimatung und zivilgesellschaftliche Teilhabe ist damit keine Frage der Überforderung oder fehlenden Möglichkeiten, es ist die einzig mögliche Antwort zur Aufrechterhaltung dieser an sich überkommenen Strukturen.

Mit der Erosion selbst der als gefestigt und erfolgreich angesehenen Vertretungsorgane wird die Frage nach der Daseinsberechtigung der herkunftsorientierten und idenditären Verbandsstrukturen immer dringender. Für die Beantwortung dieser Frage braucht es die Bereitschaft, vermeintliche Selbstverständlichkeiten zur Diskussion zu stellen: Welche Funktion und Rolle soll die Moschee im hier und heute im Leben von Muslimen einnehmen, wie und welche Strukturen sind oberhalb der Ebene der Moscheen notwendig, nützlich und sinnvoll. Gesetzt wäre in solch einer Diskussion grundsätzlich nur das Dasein der Moscheen, alle anderen Ebenen müssen im Sinne der Zukunftsfähigkeit der muslimischen Präsenz und Institutionalisierung in Deutschland und Europa hinterfragt werden.

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