In Deutschland ist der Diskurs um die Statusfrage der muslimischen Gemeinschaften weitgehend eingeschlafen. Die Islampolitik der neuen Ampel-Koalition nimmt noch Form an. Von muslimischer Verbandsseite kommen so gut wie keine Debattenbeiträge, selbst bei höchsteigenen Themenstellungen. In Frankreich dagegen sorgt in den letzten zwei Jahren ein klarer Kurs des in Religionsfragen zuständigen Innenministers Darmanin für immer neue Entwicklungen in der französisch-muslimischen Verbandslandschaft. Nachdem Ende 2020 mehrere Verbände ihre dem Präsidenten gegenüber zugesagte Unterschrift zu einer "Charta der republikanischen Werte" direkt im Anschluss des Gesprächs mit Macron wieder zurückzogen, blieb das gemeinsame Vertretungsorgan „Kultusrates der französischen Muslime“ (CFCM) weitgehend handlungs- und vertretungsunfähig.
Der französische Innenminister erklärt Ende 2021 schließlich, die CFCM als tot anzusehen. In Regionalkonferenzen wurde die Gründung eines “Forum de l’lslam de France” (FORIF) angestoßen. Damit stellte der französische Staat klar, nicht mehr die Verbandsstrukturen als Ansprechpartner anzusehen, sondern weitgehend lokale Moscheestrukturen und muslimische Intellektuelle direkt anzusprechen.
Schlingerkurs IGMG
Einen besonderen Schlingerkurs fuhren dabei die französischen Regionalverbände der "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş" (IGMG). Während der Dachverband der französischen IGMG-Regionalverbände, die Confédération Islamique Milli Gorus France (CIMG) zu Beginn noch euphorisch die Unterschrift unter die Charta ankündigte, ruderte sie insbesondere in der türkisch-sprachigen Öffentlichkeit, in Presse-Interviews in der Türkei und in den eigenen Verbandspublikationen von dieser Position zurück, um schließlich ein Jahr später doch zu verkünden, die Charta wieder unterschreiben zu wollen - einen Monat, nachdem der Innenminister die Zusammenarbeit mit den Dachverbänden für beendet erklärt hat.
Die französischen Gemeinden mussten für diese Kurswechsel einen herben Preis zahlen. So verlor nicht nur die Straßburger Milli Görüş-Moschee eine Förderung der Stadt Straßburg in Höhe von 2,5 Mio. € für ihren laufenden Moscheebau, zahlreiche laufende Genehmigungsverfahren für den Bau und Betrieb von Bildungseinrichtungen wurden von staatlicher Seite beendet. Kennern zufolge lagen jedoch die steten Positonswechsel nicht unbedingt in der Hand der Akteure vor Ort, vielmehr sollen die Weisungen diesbezüglich von der IGMG-Zentrale in Köln ausgegangen sein.
Es ist anzunehmen, dass gerade dieses Ungleichgewicht zwischen den Entscheidungsträgern in Köln und den Konsequenzträgern in Frankreich dazu führte, dass sich der Präsident der CIMG am Sonntag (20.03.2022) mit einem ungewöhnlich scharfen türkisch-sprachigen Schreiben an die Öffentlichkeit, insbesondere an die Verbandsöffentichkeit gewandt hat. Unter der Überschrift "IGMG, notwendige Reformen, transparente und breite Beteiligung, Strukturen auf Landesebene, Benennung der Aufgaben und Verantwortlichkeiten von der Basis bis in die Spitze" werden Forderungen gegenüber der IGMG-Europazentrale in Köln gestellt, die den schmerzlichen Erfahrungen der französischen Regionalverbände geschuldet sein dürften.
Reformforderungen an die IGMG-Spitze
In der Erklärung, die nicht nur über die Webseite der CIMG, sondern auch über alle Social Media-Kanäle verbreitet wurde, werden in fünf Thesen Reformen in der IGMG gefordert, damit "die Organisation sicher auf ihrem Weg vorangehen kann" (eigene Übersetzung aus dem Türkischen).
Der Präsident der CIMG, Fatih Sarıkır, stellt folgende Forderungen:
- Zur Europazentrale der IGMG: Es solle ein Verwaltungsrat gebildet werden, der aus Mitgliedern des erweiterten Vorstands der IGMG, den Regionalverbandsvorsitzenden, den Vorsitzenden für die Frauen-, Frauen-Jugend-, und Jugendabteilungen in den Regionalverbänden und je einem Moscheevorsitzenden aus jedem Regionalverband bestehen soll.
- Der Verwaltungsrat soll für die Designierung des Vorsitzenden der IGMG, für Satzungsänderungen, die Verabschiedung eines verbindlichen Haushalts und die Absegnung eines 5-Jahres-Aktionsplans verantwortlich sein und als Kontrollinstanz für den Verband dienen. Die Forderung ist bemerkenswert, da diese Funktionen aktuell faktisch allein durch den IGMG-Vorsitzenden ohne eine wirkungsvolle Rechenschaftspflicht wahrgenommen werden.
- Wie in demokratischen Staaten solle der Vorstand den vom Verwaltungsrat verabschiedeten 5-Jahres-Aktionsplan im Rahmen der ihm gewährten Befugnisse umsetzen. Der Verwaltungsrat soll die Umsetzung kontrollieren. Bisher bestehen innerhalb der IGMG Kontrollstrukturen weitgehend nur von oben nach unten, also von der Zentrale in die Regionalverbände und Gemeinden, von den Regionalverbänden in die Gemeinden. Eine Kontrolle der Zentrale durch andere Hierarchieebenen ist faktisch nicht vorhanden und möglich.
- In Ländern außerhalb von Deutschland wird eine föderative Struktur (ähnlich wie die der Europäische Union) gefordert, die den jeweiligen Regional- und Landesverbänden die Möglichkeit geben soll, innenpolitische Themen eigenständig zu entscheiden.
- "Die Wege, die einen Missbrauch unserer Organisation ermöglichen, sollen verschlossen werden."(!)
Bereits die ersten vier Forderungen dürften die IGMG und insbesondere den Vorsitzenden verschrecken. Die von Sarıkır aufgeworfenen Forderungen stellen die bisher weitgehend uneingeschränkt und autoritär ausgeübte Funktion des Vorsitzenden Kemal Ergün in Frage. Mit der Forderung Nummer 4 wird auch indirekt die Adresse für die nach Sarıkır eigentlichen Verantwortlichen für das französiche Desaster der IGMG aufgezeigt - die Einmischung der Zentrale in die innenpolitische Entscheidungsfähigkeit der französichen IGMG-Strukturen.
Missbrauchsvorwürfe gegen IGMG-Vorstand?
Die fünfte Forderung fällt jedoch aus dem bis dahin mehr oder weniger konkreten Rahmen und hört sich eher nach einer Drohung an. Um welchen Missbrauch geht es hier, in welcher Form wurde die IGMG von den eigenen Funktionären, hier ist wohl die Leitung der Europazentrale in Köln gemeint, missbraucht? Punkt 5 lässt befürchten, dass es bei dem Streit nicht mehr nur um eine innerverbandliche Auseinandersetzung um Kompetenzen und um Unabhänigkeit geht. Der Vorwurf des Missbrauchs der Strukturen wirft Fragen nach dessen Natur auf: Geht es um einen moralischen Missbrauch, des Nichteinhalten von selbst gesetzten Ansprüchen - und bereits dies wäre im Rahmen einer Religionsgemeinschaft kaum erklärbar -, oder geht es gar um juristisch relevante Handlungen des IGMG-Vorstands. Einmal dieses Fass eröffnet, wird Fatih Sarıkır kaum um die Beantwortung dieser Frage herumkommen, will er nicht seine eigene Integrität hinterfragt wissen.
Nachtrag: Die seit Sonntag auf der Internetseite der CIMG abrufbaren Inhalte, sind während der Erstellung dieses Beitrags wohl mit der gesamten Internetseite vom Netz genommen worden. Der Internetauftritt der CIMG ist aktuell (Stand: 22.03.2022, 20:00 Uhr). Das Schreiben des CIMG-Vorsitzenden Sarıkır ist jedoch noch über Archiv-Seiten abrufbar: https://archive.ph/jADpQ