Es sind nun über sechs Jahre her, seit ich keinen Bezug mehr zur IGMG habe. Lange genug, um sich nun doch wieder einmal anzuschauen, wie es um den dominanten Diskurs innerhalb der Gemeinschaft steht. Aufgrund der mittlerweile sehr spärlichen öffentlichen Positionierungen und Stellungnahme des Verbandes werde ich dabei auf zwei Publikationen aus dem Eigenverlag des Verbandes zurückgreifen.
In dem Buch “Derdimiz Davamız 1” (dt. Unsere Sorgen, unser Kampf) des IGMG Vorsitzenden Kemal Ergün sind seine Reden und Vorträge zusammengetragen worden, die er im innerverbandlichen Kontext gehalten hat. Als eine direkte Ansprache der Mitglieder und Verbandsfunktionäre spielen diese für die innerverbandliche Positionierung sicherlich eine große Rolle. In einer deutschen Übersetzung liegen diese Beiträge jedoch so gut wie nicht vor und sind der Allgemeinheit somit nicht zugänglich. Als die Reden des Vorsitzenden einer der größten muslimischen Verbände in Deutschland und Europa sind diese jedoch auch in unserem hiesigen Islamdiskurs relevant.
Das Erscheinen des zweiten Buches im Eigenverlag ist bemerkenswert. Es ist eine Biographie von Necmettin Erbakan. Bemerkenswert ist daran, dass bereits die Veröffentlichung solch einer Biographie einen Wandel und Bruch innerhalb der IGMG-Führung ahnen lässt. Für Ergüns Vorgänger und in der Zeit von 2001 – 2011 war Erbakan – zumindest auf der zentralen Ebene – ein Antagonist, der sich den Veränderungen und Transformationen in der europäischen Milli Görüş entgegenstellte. Ein Prozess, den Werner Schiffauer in seiner Ethnologie “Nach dem Islamismus” sehr gut nachzeichnet.
Die Auseinandersetzung ging soweit, dass Erbakan noch bis kurz vor seinem Tod eigene, alternative Vorsitzende nach Kerpen (dem damaligen Hauptsitz der IGMG) entsandte, die vom damaligen Vorstand aber postwendend wieder in den Flieger gesetzt wurden. Ein zermürbender Kampf wurde an der Spitze ausgefochten gegen den alten “Spiritus rector”, der seinen Bedeutungsverlust nicht hinnehmen konnte, aber auch noch genug emotionale Unterstützung auf der Ebene von Funktionsträgern, insbesondere auf der regionalen Ebene, mobilisieren konnte.
Gegen seine letzte Designation auf dem Totenbett, den danach zum Vorsitzenden gewählten Kemal Ergün, fehlte es der Fraktion in der Opposition zu Erbakan dann an der nötigen Kraft zur weiteren Auseinandersetzung. Zumal Kemal Ergün sich in diesen Prozess als Vermittler eingebracht und als designierter Vorsitzender herausgekommen war. Dass mit Ergüns Wahl zum Vorsitzenden die Person Erbakan wieder Einzug zur Identitätsbildung innerhalb der IGMG halten konnte, ist insofern nicht einmal überraschend.
Anhand der im IGMG-Verlag Plural Publications veröffentlichten Erbakan-Biographie will ich untersuchen, welches Erbakan-Bild nun von offizieller IGMG-Seite in die eigenen Gemeinden kommuniziert wird. Eine Frage wird auch sein, ob und inwieweit dieses Bild einen Niederschlag in den Reden von Kemal Ergün findet. Weiterhin wäre zu untersuchen, ob der von Schiffauer vor 2011 beschriebene und von den Verfassungsschutzämtern erst nach 2013 bestätigte Transformationsprozess überhaupt noch eine Rolle in der heutigen IGMG spielt oder ob nicht sogar eine Zurückentwicklung dieses Prozesse beobachtet werden kann.