Glauben oder Eindeutigkeit

7 Minuten, 6 Sekunden

Wenn die „Verteidigung der Religion“ einem den Glauben kostet

Hidayet Ş. Tuksal schrieb letzte Woche über ein „Erdbeben im konservativen Milieu“ in der Türkei. Konkret geht es um eine persönliche Erklärung von Talha Hakan Alp, eines bis dahin als konservativ-muslimisch bekannten Gelehrten, der sich nicht nur von seinen bisherigen Positionen distanziert, sondern auch seine Glaubenszweifel öffentlich machte. Tuksal thematisiert dabei einen immer wieder stattfindenden Prozess von Ausgrenzung und Verurteilung innerhalb des muslimisch-konservativen Milieus in der Türkei bei als abweichend markierten Haltungen von ehemaligen Weggefährten. Die Erklärung Alps provoziert jedenfalls eine große Anzahl von Reaktionen herauf – aktuell (Stand: 11.04.21) ca. 1500 Kommentare auf den Thread, die gespickt mit Verurteilungen und Drohungen gegenüber dem Erklärenden sind.

Talha Hakan Alp ist für mich kein unbekannter Name. Seine Arbeit habe ich nicht unbedingt verfolgt, ich wurde aufgrund seiner Wirkung auf konservativ-muslimische Jugendliche auf ihn aufmerksam. Dabei fiel er mir auf, weil er zwar in einem Umfeld unterwegs gewesen ist, dessen Islamverständnis ich eher ablehnend gegenüberstehe und als intellektuell gefährlich ansehe, er sich von den Hauptakteuren dort in seiner Rhetorik zumindest in der Schärfe unterschied.

Exklusiver Wahrheitsanspruch

Das gemeinte Umfeld ist geprägt von einem sehr exklusiven Wahrheitsanspruch, der sich weniger gegen Nicht-Muslime richtete (dorthin gibt es kaum Berührungs- und Begegnungspunkte, sie werden auch nicht gesucht), sondern gegen die muslimische Community im Allgemeinen. Mit dem Anspruch Verteidiger der Ahlu-Sunna-Doktrin zu sein, erklärten diese Akteure ihren Weg, ihre Art des Quellenverständnisses zum einzig möglichen und annehmbaren Islamverständnis. Auch wenn es nicht explizit ausgesprochen wurde, war die Infragestellung der Zugehörigkeit eines Muslims zur Ahlu-Sunna für sie gleichbedeutend mit einem Takfir, dem Ausschluss aus dem Kreis der Muslime. Nur die Abneigung davor, als Takfiri bezeichnet zu werden, ließ diese Akteure zwar auf den direkten Vorwurf der Apostasie verzichten, der Vorwurf, nicht zur Ahli-Sunna zu gehören, war jedoch gleichbedeutend.

Taha Hakan Alp wirkte in diesem Umfeld. Seine Beiträge wurden in der Zeitschrift „Rıhle“ von Ebubekir Sifil publiziert, er wirkte als Dozent für Kalam und Aqida in unterschiedlichen Bildungseinrichtungen, die sich als Bollwerke der „Ahlu Sunna“ verstanden. Der Begriff der „Ahlu Sunna“ in diesem Milieu hat wenig mit dem älteren Begriff zu tun, mit dem die Mehrheit der Muslime zusammengefasst wurden, die sich-auf Koran und Sunna als Quellen der Religion berufen. In diesem Umfeld wird der Begriff sehr eng geführt. Es geht nicht um einen Verweis auf diese zwei Hauptquellen, tatsächlich geht es um die Absolutsetzung der eigenen Lesart und Interpretation des Islam. Ebubekir Sifil hatte einmal vor Jahren in einem Vortrag in Köln selbst das Lesen von Koran-Übersetzungen und religiösen Büchern als gefährlich für die muslimische Jugend bezeichnet. Nur ihm und seinesgleichen sollte gelauscht werden, nur ihre Bücher sollten gelesen werden. In der anschließenden heftigen Diskussion dauerte es dann keine zehn Minuten, bis er mich als nicht-zur-Ahlu-Sunna-gehörend erklärte.

Talha Hakan Alp hatte eine sehr orthodox-traditionelle Ausbildung in diesem Milieu genossen. Er war selbst ein Kind dieses Umfelds. Er beschäftigte sich mit Kelam-Themen und lehrte diese. Innerhalb einer Gruppe von Hodschas (Lehrern), die sich vorgeblich streng an der Tradition orientierten und dem Verstand nur eine beschränkte Rolle im Verstehen der Überlieferung zuwiesen, fiel er mit dem Gebrauch von rationalen Argumenten auf. Ihm fehlte auch das Polemische in der Sprache, ein Markenzeichen der Großen der Szene wie Ebubekir Sifil, Ihsan Şenocak oder Cübbeli Ahmet.

"In der Wahrheit liegt die Heilung"

Nun, was war nun das Erdbeben, das Tuksal in ihrem Beitrag aufgriff? Ende März veröffentlichte Alp eine Reihe von Tweets auf Twitter, mit denen er zu seinem aktuellen Denken Stellung bezog. Die Erklärung will ich in eigener Übersetzung hier dokumentieren:

Notwendige Erklärung!
Ich muss eine Wahrheit zu meiner Person, die ich seit langem öffentlich machen will, aber teilweise auf Anraten meiner Freunde und teilweise aus anderen Gründen nicht veröffentlichen konnte, nun doch öffentlich machen.
Seit einiger Zeit habe ich Zweifel bezüglich meines Glaubens. Zu den Gründen und Details will ich nichts sagen. Ich hinterfrage und suche.
Sowohl meinem nahen Umfeld als auch meinen Follower hier dürften die Veränderung, die ich durchlebe, aufgefallen sein.
Um das Ausmaß der Veränderung darzulegen, möchte ich Folgendes anführen: Ich glaube an Gott, aber ich habe kein gesichertes Wissen, keinen Glauben, keine Vorstellung darüber, ihn zu beschreiben oder eine Aussage darüber zu treffen, wie er ist.
Mein Hinterfragen von Religion und des Glaubens an den Propheten hält noch weiter an. Es gibt vieles, dass ich nicht einordnen kann, aber dies hier zu besprechen würde nur zu Diskussionen führen, das will ich weder hier noch jetzt tun.
Parallel zu meinen Veränderungen im Glauben haben sich auch Änderungen in meiner Weltanschauung und meinen Lebensstil eingestellt. Ich hinterfrage nicht nur meinen Glauben, sondern auch meine moralischen Vorstellungen, die ich auf meinen Glauben aufgebaut habe.
Ich komme zu dem Grund, warum ich all das hier öffentlich mache.
Wenn die Freunde, die mich als einen Hodscha (Lehrer) ansehen, dies wissen, wird es für sie und für mich das Richtige sein. Ich sage das in meinem nahen Umfeld und will es auch hier wiederholen: Ich bin kein Hodscha, auch kein religiöser Führer, auch nicht in meinem kleinen Rahmen. In der Wahrheit liegt die Heilung.“ (Talha Hakan Alp im türkischen Original hier: https://twitter.com/hakantalhaalp/status/1377317405005914114)

Dieser Schritt von Alp ist aufrichtig, aber auch bemerkenswert. Wie zuvor schon dargelegt, hat mich das Werk von Alp aufgrund des Milieus, in dem er unterwegs war, nicht besonders berührt. Mit seiner Wirkung war ich jedoch öfter konfrontiert, besonders wenn ich mich mit jungen Muslimen unterhalten oder mit ihnen über Fragen des Islamverständnisses diskutiert habe, die sich diesem Milieu der „Ahlu Sunna-Burg" (türkisch: „Ehli Sünnet Kalesi“) zugerechnet haben. Talha Alp war gerade unter den Intellektuelleren dieser Gruppe wirkmächtig. Sein etwas rationalerer Zugang in einem Umfeld, das von völliger intellektueller Unterwerfung und dogmatisierter Emotionalität geprägt war, machte ihn zu einem Insidertipp unter diesen Jugendlichen, für die die Hau-drauf-Rhetoriken der Sifils, Şenocaks oder Cübbelis intellektuell unbefriedigend wurden.

Er schien die Ahlu Sunna-Rettungsleine zu sein, wenn die eigenen Selbstzweifel der Jugendlichen angesichts der irrationalen und amoralischen Eskapaden der großen Milieu-Hodschas zu groß wurden. Er war ein Beispiel dafür, dass man auch mit rationalen Gründen und einer soliden moralischen Haltung, die nicht immer deckungsgleich mit dem „Islam der Herrschenden“ sein musste, Teil der in diesen Kreisen imaginierten Ahlu Sunna-Gemeinschaft sein konnte.

Eindeutigkeit und der Zweifel

Woran er nicht rüttelte, war der Anspruch auf Eindeutigkeit in seinem Milieu. Was im Koran herabgesandt wurde war klar, wie der Prophet in seiner Sunna den Koran interpretierte und auslebte war klar und vermittelt wurde diese Klarheit von Hodschas, die ihren Anspruch auf Authentizität auf eine vermeintlich unkritische Befolgung der Tradition zurückführten. Das Vorhandensein von mehr als einer Tradition wurde dabei auf dem Altar der Eindeutigkeit geopfert, auf dem schon vorher die Möglichkeit der eigenen Fehlbarkeit beseitigt worden war. Alles Notwendige und Relevante war demnach in der Tradition schon gesagt worden. Worüber die Tradition nichts sagte, das war nicht relevant und auch nicht notwendig. Weitergehende Anfragen an Koran und Sunna als Quellen (in Form der Tradition) waren falsch und die Fragen der Jugendlichen, die in dieses enge Korsett nicht passen wollten, waren das Ergebnis eines kranken, von modernistischen Zweifeln gepeinigten Geistes. Dass bei diesem ganzen Prozess der Vereindeutigung am Ende die Hodschas diejenigen waren, die die Quellen sprechen oder verstummen ließen, das schienen die Wenigsten ihrer Anhänger sehen zu wollen. Zu angenehm und befriedigend war die Gewissheit, in einer Welt des Chaos und Durcheinanders zu einer Gemeinschaft der Glückseligen zu gehören, die auf eine eindeutige Wahrheit zurückgreifen konnten.

Die Wenigen, denen die vorhandenen Diskrepanzen in Sein und Schein dieses Umfeldes unangenehm wurden, die konnte dann ein Talha Hakan Alp einfangen. Ihm schien diese Aufgabe jedoch auch immer schwerer zu fallen. Dies zeigte sich, wenn er immer öfter auf die gestellten Fragen mit einem „Das weiß ich nicht, da muss ich selbst noch weiterforschen“ antwortete. In diesen Momenten flackerte zwar sein eigener innerer Kampf auf, er selbst opferte diesen aber lange Zeit dem in diesem Milieu herrschenden Eindeutigkeits-Dogma. Darin sehe ich seine intellektuelle Schuld, die ich ihm zum Vorwurf mache. Er wirkte an der Aufrechterhaltung einer Illusion mit, die bei der ihr folgenden Jugendlichen nicht nur zu einer Weltfremdheit führte, sondern auch zu einer passiven, gar ignoranten Weltabgewandtheit. Aktiv wurde diese Gefolgschaft oftmals nur noch, wenn es um die öffentliche Verunglimpfung von muslimischen Andersdenkenden ging. Eine Eigenschaft, die nun auch ihm selbst zum Verhängnis wird.

Zu lange verfolgte er den verzweifelten Versuch, zu Eindeutigkeit im Menschlichen und Göttlichen zu gelangen, in einer Welt, in der wir Menschen nicht für Eindeutigkeit geschaffen und nicht zur Eindeutigkeit fähig sind. Gebaut war sein Glauben auf dem Fundament der Eindeutigkeit, gekostet hat es ihn nun seinen Glauben.

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