Wächst man in einem mehrsprachigen Umfeld auf, in dem sehr viele Menschen jeweils Zugang zu einer der beiden Sprachen oder sogar beiden Sprachen haben, stellt sich schonmal die Frage, in welcher Sprache eine bestimmte Debatte geführt werden müsste. Manchmal kann man bestimmte Diskussionen mit Blick auf die Zielgruppe und die besondere Fokussierung auf einen milieuspezifischen Zusammenhang nur in einer Sprache führen. Insbesondere milieubezogene Kritik wirkt oftmals nur, wenn sie auch in der milieu-eigenen Sprache vorgebracht wird.
Es gibt aber auch Situationen, da darf man aus der Warte der Redlichkeit nicht auf die jeweils andere Sprache ausweichen. Kritik an Deutschland auf Türkisch oder Kritik an der Türkei auf Deutsch, Beides kann seine Berechtigung haben, besonders wenn man nicht den Zugang zur anderen Sprache hat. Sie wird jedoch dann verwerflich, wenn sie jeweils auf der einen Seite Vorurteile bedienen, Ressentiments schüren und dabei auf der anderen Seite nicht wahrgenommen werden will.
So hat sich gerade hier im deutsch-türkischen Diskurs ein interessanter Typus von Aktivisten herausgebildet, die diese sprachliche Trennung der Diskursräume auf eine besonders unredliche Art betreiben. Die besondere Unredlichkeit liegt dabei darin, dass der türkischsprachige Diskursraum mit diametral entgegenstehenden Inhalten bedient wird, als es im deutschsprachigen Diskursraum der Fall ist. Während im Deutschen Begriffe wie Pluralität, Diversity und Antirassismus an jeder passenden und unpassenden Stelle in den Ring geworfen werden, fallen die türkischsprachigen Wortmeldungen durch einen extremen Nationalismus, Kulturexklusivismus und Homogenitätsphantasien auf.
Murat Kayman greift in einem aktuellen Beitrag auf seinem Blog exemplarisch ein interessantes Beispiel aus dem türkisch-identitären Milieu auf. Interessant an dem von Kayman aufgegriffenen Beispiel ist, dass der in der türkischsprachigen Tageszeitung Star erschienene Beitrag sich auf die Situation von türkeistämmigen Menschen in Deutschland bezieht, die vorgebrachten Argumente aber weder von dem in Deutschland lebenden Autor noch von dessen ideologischem Umfeld auf Deutsch reproduziert werden. Kayman liefert damit nicht nur einen Einblick in einen Diskurs, der zwar von der Zukunft Deutschlands handelt aber dem deutschsprachigen Diskursraum vorenthalten bleibt. Durch die Wiedergabe der Aussagen im Deutschen zeigt er auch dem zweisprachigen Leser, welche nationalistischen und bisweilen sogar rassistischen Konnotationen in der im türkischen eher blumig-heroisch gehaltenen Formulierungen sich verstecken.
Entsprechend kritisch fällt dann auch Kaymans Würdigung des Beitrags aus:
Çelebi und Ayvaz wünschen sich offensichtlich eine Zukunft als randständige gesellschaftliche Wagenburg. Eine Schicksalsgemeinschaft, die sich in ihrem türkischen Polonezköy, im abgeschiedenen und von der übrigen Gesellschaft abgewandten Dorf heimelig eingerichtet hat und ihre gesellschaftliche Relevanz freiwillig auf die Funktion einer touristischen Attraktion reduziert. Sie wünschen sich eine Zukunft als nationale Minderheit, in ihrer „Identität“ von der übrigen Gesellschaft in Ruhe gelassen, ungestört in ihrer Überzeugung von der eigenen „kulturellen Überlegenheit“.
Die Ausschließlichkeit, mit der beide ihre Vorstellung von „Kultur“ und „Identität“ pflegen, widerspricht der menschlichen Realität. Und sie widerspricht der islamischen Offenbarung, in der gerade die Vielfalt der menschlichen Schöpfung, die Vielfalt von kulturellen Eigenheiten, von Stämmen und Völkern als göttliche Absicht zum Nutzen der Menschen beschrieben wird. Sie widerspricht der islamischen Offenbarung, dass kein Mensch dem anderen Menschen in Abstammung, Ethnie oder Kultur überlegen ist.