Französische Revolution in der IGMG - eine IGMG, viele Gesichter?

6 Minuten, 27 Sekunden

Der Diskurs über Islam und Muslime in Deutschland und anderen europäischen Staaten nimmt in diesen bewegten Zeiten nicht an Intensität ab. Die Zahl der Beiträge wird zwar mehr, nicht jedoch unbedingt die Zahl der Wortmeldungen auf Seiten der muslimischen Gemeinschaften. Für Öffentlichkeit und Medien ist es aktuell eher schwierig, überhaupt an O-Töne von Vertretern der muslimischen Gemeinschaften zu kommen. Dies zeigte sich auch in einem Pressegespräch des "Mediendienst Integration" am 17. November 2020 unter dem Titel "Berichten über Islam-Themen: Wie kann man Gemeinden richtig einschätzen und ansprechen?"

Hinzu kommt, dass das Handeln und die Kommunikation von manchen muslimischen Gemeinschaften immer wieder erratische Züge aufweist. Logische Brüche und Widersprüche von Aussagen der jeweiligen Zentralen zu Aussagen der Untergliederungen erschweren die Erkenntnis darüber, welche Positionen "verbandlich" sind, welche der Aussagen im Rahmen eines innerverbandlichen Diskurses entstanden sind oder eher aus der jeweiligen Situation heraus formuliert werden.

Für einen "französischen Islam"

Ein aktuelles Beispiel dieser Problematik finden wir in einer Erklärung der französischen Untergliederung der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG), der Confédération Islamique Milli Gorus France (CIMG). In der Erklärung vom 19. November äußert sich die CIMG zu dem Gipfel des französischen Präsidenten Macrons mit dem „Kultusrates der französischen Muslime“ (CFCM). Auf dem Gipfel verpflichtete sich die CFCM und ihre Mitgliedsverbände dazu, innerhalb von zwei Wochen mit einer "Charta der republikanischen Werte" einen verbindlichen Wertekanon für Imame in Frankreich vorzulegen. Zudem soll ein "Nationaler Imamrat" eingerichtet werden, der für die Ausbildung und Zulassung der Imame zuständig sein soll. Die Funktion des Rates soll jedoch nicht nur auf Fragen der Qualität der Imame beschränkt sein, auch dem Import von Imamen aus dem Ausland soll damit ein Riegel vorgeschoben werden.

Bemerkenswert ist die Erklärung der französischen Milli Görüş-Untergliederung, weil sie in vielen Punkten der Haltung des europäischen Zentralverbands diametral entgegensteht. Die CIMG ordnet das Ergebnis des Gipfeltreffens, an dem auch ein Vertreter des Verbandes teilgenommen hat, als "historisch" ein. Die CIMG spricht von dem "Vergnügen und [der] Ehre", an dem Treffen mit dem Präsidenten teilgenommen zu haben. Medial wird das Gipfel-Ergebnis eher mit dem Begriff eines Ultimatums an die muslimischen Gemeinschaften in Frankreich überschrieben. Die Einrichtung des "Nationalen Imamrates" wird von der CIMG als eigenes Projekt dargestellt, die "republikanische Vision" bei ihrer Erarbeitung besonders hervorgehoben.

In der Erklärung wird die eigene Verbundenheit mit "den republikanischen Werten" betont, die Förderung eines "humanistischen und offenen Islams" bezeugt und ein vollkommen "vom Ausland unabhängige muslimische Gemeinschaft in Frankreich" als Ziel formuliert. Zudem wird die "Politisierung des Islams" und jegliche "ausländische Einmischung" abgelehnt. In der ersten veröffentlichten Version der Erklärung wurde gar von einer "islam politique", also von einem abzulehnenden "politischen Islam" gesprochen.

Die bisher vom europäischen Zentralverband IGMG kommunizierten Positionen zu den Gipfel-Themen laufen den Aussagen in der Erklärung der CIMG entgegen. Faktisch unterstehen die in der CIMG zusammengeschlossenen französischen Regionalverbände direkt der Zentrale in Köln. Die Vorsitzenden der Regionalverbände werden aus Köln ernannt, die Regionalverbände sind vollständig in die IGMG-Struktur eingegliedert. Formal ist zudem der IGMG-Vorsitzende Kemal Ergün auch der Vorsitzende der CIMG.

Das Eintreten für eine "vom Ausland unabhängigen muslimischen Gemeinschaft in Frankreich" überrascht, wenn man die Abhängigkeit und Unterordnung der CIMG unter die IGMG kennt. Der IGMG-Vorsitzende fungiert in Personalunion auch als Präsident der CIMG, die sechs Regionalverbandsvorsitzenden sind regelmäßig mit ihren Kollegen aus Deutschland und anderen europäischen Ländern zum Rapport in der Kölner Colonia Allee. Wenn die CIMG es ernst meint mit der völligen Unabhängigkeit vom Ausland, soll davon die Beziehung zur IGMG unberührt bleiben, nach welchen formalen Kriterien soll dies von den französischen Behörden hingenommen werden? Wird nun die IGMG die französischen Regionalverbände aus der eigenen Hierarchie herauslösen und in die Unabhängigkeit entlassen? Werden wir es in Zukunft vielleicht sogar mit einer eigenständigen französischen Milli Görüş, einer deutschen, einer österreichischen Milli Görüş zu tun haben? Zumindest auf Französisch scheint ein Kemal Ergün einer solchen Entwicklung nicht entgegenzustehen und sie sogar einzufordern. Fraglich ist, ob er dies auch auf Deutsch und noch wichtiger, auch auf Türkisch so sagen wird.

Aber gegen einen "deutschen Islam"?

Die Gründung des Islamkollegs in Osnabrück für die deutschsprachige Ausbildung von Imamen in Deutschland wird vom Generalsekretär der IGMG, Bekir Altaş, als "politisch motivierte Interventionen" kritisiert. Die Beteiligung von zahlreichen muslimischen Gemeinschaften als Kooperationspartner in dem Projekt wird dabei weitgehend kleingeredet. In Frankreich wird der Staat mit der geforderten Charta sogar bis in die Ebene der Selbstbestimmung und der Ausbildungsinhalte der Imame Einfluss nehmen können. Ist die nun begrüßte französische direkte Intervention frei von jeglicher politischer Motivation, während beim kritisierten Islamkolleg die bekenntnisgebundenen Inhalte nur von den beteiligten muslimischen Gemeinschaften verantwortet werden?

Die österreichischen Pläne ein Imam-Register einzuführen, wurden von Seiten der IGMG mit harten Tönen kritisiert. Der frühere Islamratsvorsitzende und aktuelle Mitarbeiter des Generalsekretariats der IGMG, Ali Kizilkaya, ordnete bereits den Wunsch von Sebastian Kurz nach einem Imam-Registers als "bislang nur in autoritären Staaten üblich" ein. In Frankreich wird der bereits beschlossene "Nationale Imamrat" nicht nur Imame registrieren, sondern auch über die Zulassung zum Amt des Imams entscheiden. Innerhalb von gerade einmal drei Tagen muss sich damit die Meinung zu einem Imam-Register innerhalb der IGMG von einem als autoritär abzulehnenden zu einem als "historisch" und selbstgewollten Instrument geändert haben. Drei Tage dürften objektiv ein viel zu kurzer Zeitraum sein, um einen dermaßen gravierenden Meinungswechsel nachvollziehbar darzulegen.

Nur eine Woche brauchte es, bis sich auch die Einordnung des Begriffs "politischer Islam" änderte. In einer Presseerklärung vom 11. November 2020 wird der Begriff noch als "populäre[s] Begriffskonstrukt" abgelehnt: "Ein Begriff, der mangels Definition unbrauchbar ist, zugleich aber geeignet ist, pauschal alle Muslime zu brandmarken." Die CIMG geht jedoch von der Brauchbarkeit des Begriffs aus und spricht sich in der ersten Version der Erklärung offen gegen ein real existierendes Phänomen "islam politique" aus. Auch in der nun abgeschwächten Version stellt sich die CIMG gegen die "Politisierung des Islam" durch muslimische Akteure.

Die Rolle des Staates wird in der Erklärung der CIMG ganz anders bewertet, als durch die IGMG. So kritisiert die IGMG in ihrer Online-Publikation IslamiQ die Deutsche Islam Konferenz immer wieder als einen Versuch der staatlichen Einflussnahme auf die muslimischen Gemeinschaften. Das Backen eines "deutschen Islams" dürfe es nicht geben, von einem "Projekt im Projekt" oder gar der „Konstantinierung“ des Islams wird in manchen Beiträgen georakelt, der DIK selbst wird die "Politisierung der Islamdebatte" vorgeworfen. Ganz anders die CIMG, die in ihrer Eloge auf die republikanischen Werte sich nicht vor patriotischen Tönen scheut und den französischen Staat als Alliierten im Kampf gegen den politischen Islam oder der Politisierung des Islams durch muslimische Akteure sieht.

Die Widersprüche in der aktuellen Erklärung der CIMG zu bisherigen und mit Vehemenz vorgetragenen Positionen der IGMG sind zu groß, als dass sie unbeachtet bleiben können. Gerade der hierarchische Aufbau der IGMG, die führende Rolle der IGMG als Europa-Zentrale bei der Positionierung des Gesamtverbandes und der Vorsitz in beiden Institutionen durch Kemal Ergün schließen es aus, dass die CIMG ohne Wissen und Genehmigung der IGMG-Leitung dermaßen weit auseinanderliegende Positionen formulieren kann.

Nur, welche der Positionen stehen denn nun für die IGMG? Als wie ernsthaft können Positionen angesehen werden, die sich teilweise im Zeitraum von gerade einmal einer Woche diametral ändern? Haben wir es dabei mit im internen Debatten ausgehandelten und belastbaren Positionen zu tun oder reagiert hier eine Gemeinschaft situativ auf tatsächliche oder gefühlte Erwartungen von Politik und Gesellschaft? Wie schafft es zudem ein Vorsitzender Kemal Ergün im französischen Kontext eine im Grunde anti-laizistische Einmischung des Staates in das Selbstverständnis der muslimischen Gemeinschaften als "historisch" zu begrüßen, einen staatstragenden französischen Patriotismus zu den eigenen Werten der CIMG zu erklären, im deutschen Kontext aber zivilgesellschaftliche Forderungen aus der Community nach einer selbstbestimmten Beheimatung der Muslime und des Islams in Deutschland als versuchte staatliche Einflussnahme abzuwerten? Für den gesamtgesellschaftlichen Diskurs sind dies relevante Fragen, damit muslimische Gemeinschaften als ernsthafte Akteure und Subjekte der öffentlichen Debatten wahrgenommen und akzeptiert werden.

Zurück Weiter