Die zweite Erhebung der Europäischen Union zu Minderheiten und Diskriminierungen vermittelt Hoffnung und Sorge zugleich. Sorge, weil das Problem von Diskriminierungen von Minderheiten zwar eine gesamtgesellschaftliche Relevanz hat aber noch immer keine gesamtgesellschaftliche Beachtung findet. Hoffnung vermittelt sie, weil zumindest die Mehrheit der Betroffenen von diesen Erfahrungen nicht ihr Zugehörigkeitsgefühl in das hier und jetzt abhängig machen.
Greifen wir erst einmal die schlechten Nachrichten auf. 39 % der über 10.000 Befragten fühlten sich in den fünf Jahren vor der Erhebung aufgrund ihrer ethnischen Herkunft oder ihres Migrationshintergrundes in einem oder mehreren Bereichen des Alltags – Beschäftigung, Bildung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung und bei der Inanspruchnahme von öffentlichen oder privaten Dienstleistungen – diskriminiert. Hinzu kommt, dass die Betroffenen nach eigenen Angaben mindestens fünfmal pro Jahr solch eine Erfahrung machen müssen. Über die Hälfte der Wohnungssuchenden und fast die Hälfte der Arbeitssuchenden hatte bereits das Gefühl, wegen ihren Vor – und Nachnamens diskriminiert worden zu sein. Die Sichtbarkeit der Religionszugehörigkeit scheint zudem das Risiko einer Diskriminierung zu erhöhen: 39 % der muslimischen Frauen, die in der Öffentlichkeit ein Kopftuch oder einen Gesichtsschleier tragen, haben Belästigungen erlebt, verglichen mit 23 % der nicht verschleierten Frauen.
Die Studie liefert eine erdrückend breite Palette an Zahlen für unterschiedliche Formen an Diskriminierungserfahrungen. Jede Zahl für sich ist schon verstörend, doch die Gesamtschau macht deutlich: Wir haben noch immer ein Problem im Umgang mit Minderheiten. Mit diesem Problem müssen wir uns auseinandersetzen, diesem Problem müssen wir uns entgegenstellen. Für dieses Unterfangen ist es irrelevant, wie der Islam oder die Türkei oder die Gruppen, denen wir mit unterschiedlichsten Zuschreibungen begegnen, sind. Diskriminierungen treffen zwar Minderheiten, sie betreffen aber Mehrheiten. Diskriminierungen sind ein Problem der Mehrheit und dort müssen sie auch gelöst werden.
Die Studienergebnisse lassen uns aber auch hoffen. All diese Diskriminierung, all diese Ausgrenzungserfahrungen können nicht verhindern, dass 76 % der Befragten ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zu dem Land pflegen, in dem sie leben. Über die Hälfte der befragten Muslime sind auch Staatsangehörige ihres Landes. Überraschend mag erscheinen, dass das Vertrauen der muslimischen Befragten in öffentliche Einrichtungen höher ist als das entsprechende Vertrauen der Allgemeinbevölkerung. Im Durchschnitt ist das Vertrauen der muslimischen Befragten in die Polizei und Justiz am höchsten, gefolgt von ihrem Vertrauen in das nationale Parlament.
Wir können davon ausgehen, dass ohne all die Diskriminierungserfahrungen der Prozentsatz derjenigen, die sich dem Land in dem sie leben zugehörig fühlen noch höher liegen würde. Befragte, die aufgrund ihrer ethnischen Herkunft oder ihres Migrationshintergrunds Opfer von Diskriminierung, Belästigungen oder Gewalt wurden, fühlen sich nämlich deutlich weniger mit dem betreffenden Erhebungsland verbunden als diejenigen, die keine solchen Erfahrungen gemacht haben. Die Studie zeigt damit auch, dass eine effektive Antidiskriminierungsarbeit kein vernachlässigbarer „Opferdiskurs”, sondern ein wesentlicher Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt ist.
Von dieser gibt es noch zu wenig und sie ist selbst für die Betroffenen kaum wahrnehmbar. 31 % der Befragten wissen nicht, dass sie ein einklagbares gesetzliches Recht auf Nichtdiskriminierung haben. 72 % kennen keine Organisationen, die Diskriminierungsopfern Unterstützung bieten. Und 65 % kennen keine der Gleichbehandlungsstellen in ihrem Land. Der Rechtsstaat lebt nicht nur von seiner Gewährleistung, sondern auch von der Inanspruchnahme seiner Institutionen. Wenn nur 4 % der Befragten, die von Diskriminierung berichten, eine Beschwerde einreichen oder den Vorfall einer der Gleichbehandlungsstellen im betreffenden Land melden, dann ist dies eine Zahl, an der wir arbeiten müssen.
Muslime in Europa fühlen sich den Ländern in denen sie leben zugehörig. Die Hälfte von ihnen besitzt bereits die Staatsangehörigkeit dieser Länder und diese Tendenz wird sicherlich in den nächsten Jahren steigen. Die Studie zeigt, sie lassen sich dieses Gefühl der Zugehörigkeit auch nicht von denen nehmen, die sie mit Diskriminierungen aus der Mitte der Gesellschaft drängen wollen. Sie sind hartnäckig darin, ihr Vertrauen in das Funktionieren von Rechtsstaat und den dazugehörenden Institutionen aufrecht zu erhalten – trotz negativer Erfahrungen oder solcher Katastrophen wie dem NSU-Komplex.
Politische Verantwortungsträger wären gut beraten, die Muslime in ihrem Land an diesem Punkt abzuholen. Nicht die andauernde Infragestellung der Zugehörigkeit von Muslimen ist der Schlüssel zu mehr Partizipation, sondern die Anerkenntnis eines Faktums, dass an sich nicht einmal mehr ausgesprochen werden müsste: Muslime gehören zu Europa und zu Deutschland. Nicht über Loyalitäten sollten wir uns streiten, an unserem gemeinsamen gesellschaftlichen Beitrag sollten wir arbeiten.