Dieser Beitrag ist eine gekürzte Zusammenfassung meines Vortrags „Die Würde des Menschen im islamischen Denken: Eine Spurensuche von klassischen Konzepten bis zur Gegenwart“1. Wenn Sie Interesse an der vollständigen Version haben, können Sie mich gerne über das Kontakt-Formular erreichen.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Die Würde des Menschen ist ein zentraler Begriff in unterschiedlichen kulturellen, religiösen und philosophischen Traditionen. Während sie im westlichen Diskurs etwa durch Immanuel Kant als „innerer Wert“ der Person oder im deutschen Grundgesetz als „unantastbares Recht“ beschrieben wird, ist sie im islamischen Denken eng mit der Beziehung des Menschen zu Gott verbunden. Dies wirft die Frage auf, wie die Würde des Menschen im Islam interpretiert wird und welche theologischen Grundlagen dafür entscheidend sind. Unterschiedliche Denkschulen wie die der Asch’ariten und Maturiditen tragen dazu bei, dass es keine einheitliche Definition der Menschenwürde im Islam gibt. Dieser Beitrag beleuchtet die wichtigsten Aspekte und fragt nach einer möglichen Brücke zwischen klassischen Konzepten und modernen Herausforderungen.
Das vorislamische Weltbild als Offenbarungskontext
Um die Gott-Zentrierung des Korans und damit die Grundlage des islamischen Konzepts von Menschenwürde zu verstehen, bedarf es eines Blicks auf das vorislamische Weltbild als Offenbarungskontext. In der vorislamischen arabischen Gesellschaft war das Weltbild stark menschzentriert und geprägt von einem pessimistischen Verständnis der Existenz. Gott (Allah) wurde oft als abwesend oder passiv wahrgenommen, hatte keinen direkten Einfluss auf das Leben der Menschen, während die zerstörerische Zeit (arabisch: „Dehr“) als übermächtige Kraft galt, die den Menschen letztlich vernichtet. Es fehlte eine enge Verbindung zwischen dem Menschen und einer göttlichen Präsenz im Alltag.
Der Koran transformierte dieses Weltbild radikal. Statt der Abwesenheit Gottes stellt der Koran Gott als aktiven, zentralen Wirkenden dar, der in jedem Aspekt der Schöpfung präsent ist. Der Mensch erhält in dieser Vorstellung seine Würde und Verantwortung ausschließlich durch seine Beziehung zu Gott. Diese Gott-Zentrierung des Korans steht im klaren Gegensatz zur vorislamischen Perspektive und betont, dass der Mensch nicht durch sich selbst, sondern durch seine Nähe zu Gott definiert wird. Der Koran ermöglicht so eine theologische Neuordnung, in der der Mensch seine Bedeutung und Würde nicht aus seiner eigenen Existenz, sondern aus seiner Rolle als Geschöpf Gottes bezieht.
Koranische Aussagen zur Menschenwürde
Im Koran wird die besondere Stellung des Menschen in der Schöpfung durch verschiedene Begriffe und Konzepte hervorgehoben. Der Mensch wird mit „Karama“, also Würde, ausgezeichnet. Diese Würde, die in Sure 17:70 als eine von Gott verliehene Ehre beschrieben wird, ist keine Eigenschaft, die der Mensch autonom besitzt, sondern entsteht durch Gottes Willen. Ein weiteres zentrales Konzept ist die „Fitra“, die natürliche Veranlagung des Menschen, welche in Sure 30:30 als die gottgegebene Natur beschrieben wird, mit der jeder Mensch geboren wird. Schließlich wird der Mensch in Sure 2:30 als „Khalifa“, also als Stellvertreter Gottes auf Erden, bezeichnet. Diese Rolle verleiht ihm eine besondere Verantwortung in der Schöpfung.
Die Würde des Menschen im islamischen Denken ist jedoch nicht autonom oder unabhängig von Gott zu verstehen. Sie entsteht vielmehr aus der aktiven Beziehung zwischen Gott und Mensch. Der Koran transformiert nicht nur das vorislamische Weltbild, sondern gibt dem Menschen eine neue Rolle als verantwortliches Geschöpf, dessen Würde allein in seiner Beziehung zu Gott begründet ist. Die Auslegung dieser zentralen Verse fällt in den verschiedenen Denkschulen sehr unterschiedlich aus. Je nachdem, welcher göttliche Aspekt vor die „Auslegungsklammer“ gezogen wird, entstehen im Rahmen der unterschiedlichen Glaubens- und Denkschulen im Islam sehr unterschiedliche Vorstellungen vom Menschen und dessen Beziehung zu seinem Schöpfer.
Unterschiedliche Prämissen – andere Konzepte
Im islamischen Denken gibt es keine einheitliche Vorstellung von Menschenwürde. Unterschiedliche theologische und philosophische Prämissen führen zu verschiedenen Ansätzen und Perspektiven. Einige Gelehrte betonen die völlige Unterordnung des Menschen unter Gottes Willen, während andere die Verantwortung und Würde des Menschen als Stellvertreter Gottes in den Mittelpunkt stellen. Philosophische Perspektiven beschäftigen sich mit der Frage, inwiefern der Mensch moralische Entscheidungen unabhängig von göttlicher Offenbarung treffen kann, während mystische Ansätze den Menschen als Verbindung zwischen dem Materiellen und dem Göttlichen begreifen.
Diese Vielfalt macht deutlich, dass der Islam keine monolithische Tradition ist. Vielmehr handelt es sich um ein pluralistisches System mit unterschiedlichen theologischen, philosophischen und mystischen Strömungen, die jeweils eigene Schwerpunkte setzen.
Menschenwürde in der ascharitischen Tradition
Die Asch’ariten, die auf Abu al-Hasan al-Asch’ari (874–936) zurückgehen, betonen in ihrem Denken die göttliche Allmacht. In dieser Tradition wird die Würde des Menschen vollständig als ein Geschenk Gottes verstanden. Sie ist nicht das Ergebnis individueller Leistungen oder Anstrengungen, sondern allein Ausdruck göttlicher Gnade. Der Mensch hat keine inhärente Würde, die ihm aus sich selbst heraus zusteht.
Die Würde des Menschen ist in der ascharitischen Tradition eng an die Erfüllung göttlicher Gebote gebunden. Der Mensch erhält seine Würde, indem er sich als Diener Gottes versteht und seine Rolle als solcher ausübt. Dabei wird der Mensch als ein passives Geschöpf betrachtet, das auf göttliche Führung angewiesen ist. Selbst die Fähigkeit zu glauben, also der „Iman“, wird als alleiniges Geschenk Gottes angesehen und nicht als Ergebnis menschlicher Entscheidungsfreiheit.
Die Asch’ariten betonen die Schwäche des Menschen und seine Abhängigkeit von Gott. Des Menschen Würde liegt allein in seiner Nähe zu Gott, die er durch Gehorsam und Unterwerfung erreichen kann. Diese Position führt im Ergebnis zu einer Menschenvorstellung, die das Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft, selbst innerhalb einer als plural verstandenen muslimischen Gemeinschaft, erschweren kann. Die strikte Bindung der Würde an die göttliche Gnade und die fehlende Betonung menschlicher Autonomie lassen wenig Raum für die Anerkennung individueller Unterschiede oder abweichender Meinungen.
Die ascharitische Denkschule bildet in sehr vielen Herkunftsländern der Muslime den theologischen Mainstream. Dies hat zur Folge, dass ihre Sichtweise auf den Menschen und die Gesellschaft häufig dominierend ist und alternative Ansätze, wie beispielsweise die der Maturiditen, weniger Beachtung finden.
Menschenwürde in der maturidischen Tradition
Im Gegensatz zu den Asch’ariten setzen die Maturiditen, benannt nach Abu Mansur al-Maturidi (893–941), stärker auf die Vernunft und Entscheidungsfreiheit des Menschen. In dieser Tradition wird die Vernunft als notwendiges Werkzeug angesehen, um moralische Wahrheiten zu erkennen, auch unabhängig von der göttlichen Offenbarung. Der Mensch besitzt die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und trägt die Verantwortung für sein Handeln.
Die Maturiditen sehen die Freiheit des Menschen als eines seiner zentralen Wesensmerkmale an. Der Mensch ist nicht nur in der Lage, Entscheidungen zu treffen, sondern trägt auch die Verantwortung für deren Konsequenzen. Diese Freiheit ist keine absolute Autonomie, sondern steht in einem kontinuierlichen Dialog mit der göttlichen Offenbarung. Die Maturiditen betonen, dass die Verantwortung des Menschen für seine Taten nur dann gerecht bewertet werden kann, wenn der Mensch tatsächlich frei ist, zwischen verschiedenen Handlungsoptionen zu wählen.
Diese Freiheit ist eng mit der göttlichen Gerechtigkeit verbunden. Gottes Gerechtigkeit setzt voraus, dass der Mensch für seine Taten belohnt oder bestraft wird, weil er aus freiem Willen handelt. Im Unterschied zu den Asch’ariten, die den Menschen als passiven Empfänger göttlicher Gnade betrachten, sehen die Maturiditen den Menschen als aktiven Akteur. Seine Würde entsteht durch die Fähigkeit, Gottes Gebote aus freien Stücken zu erkennen und umzusetzen.
Die Maturiditen verbinden diese Freiheit mit der Vernunft. Der Mensch wird als moralisches Subjekt betrachtet, das durch seine intellektuellen und ethischen Fähigkeiten in der Lage ist, Verantwortung zu übernehmen und die göttliche Ordnung zu verstehen. Diese Verbindung von Freiheit, Vernunft und Verantwortung verleiht dem Menschen eine inhärente Würde, die ihn von anderen Geschöpfen unterscheidet.
Imam Maturidi stand in der Tradition des Gründers der hanafitischen Rechtsschule, Imam Abu Hanifa, und entwickelte dessen Ansätze in theologischer Hinsicht weiter. Diese Denkschule hat besonders in den turksprachigen Regionen Verbreitung gefunden, wurde jedoch auch dort mit der Zeit weitgehend von der ascharitischen Schule fast in die Bedeutungslosigkeit gedrängt. In den letzten Jahrzehnten gibt es jedoch ein immer stärkeres Aufleben dieser Denkschule, insbesondere in gebildeteren und kritisch-theologischen Kreisen. Dieses Wiederaufleben dürfte auch dem Umstand geschuldet sein, dass die maturidische Tradition mit ihrer Betonung von Vernunft und Freiheit ein größeres Potenzial für zeitgemäße Antworten auf die Herausforderungen pluraler Gesellschaften und moderner Fragestellungen bietet.
Herausforderungen und Perspektiven
Die Würde des Menschen im islamischen Denken ist kein feststehendes Konzept. Die Vielfalt theologischer Ansätze – von Kalam-Traditionen wie den Asch’ariten und Maturiditen über mystische bis hin zu philosophischen Strömungen – zeigt, dass es keine einheitliche Definition für diesen Begriff gibt. Vielmehr ist die Menschenwürde im Islam ein dynamisches Konzept, das von den jeweiligen theologischen Prämissen abhängt.
Die Maturiditen bieten eine Inspiration für eine mögliche moderne Perspektive. Ihre Betonung von Vernunft und Entscheidungsfreiheit zeigt, dass es möglich ist, die Würde des Menschen stärker mit den Herausforderungen der heutigen Zeit zu verbinden, ohne dabei die theologische Grundlage zu gefährden. Es liegt nun wiederum an der heutigen Generation von Muslimen, den Mut aufzubringen, eine neue Interpretation der Menschenwürde zu entwickeln. Diese kann auf den islamischen Quellen basieren, die Rolle der Vernunft hervorheben und zugleich den Ansprüchen an Gerechtigkeit, Freiheit und Verantwortung in der modernen Welt gerecht werden.
Fazit
Die Menschenwürde im islamischen Denken ist ein vielschichtiges Konzept, das von theologischen, philosophischen und historischen Prämissen geprägt ist. Während die Asch’ariten die göttliche Allmacht betonen und den Menschen als passiven Empfänger göttlicher Gnade betrachten, heben die Maturiditen die Rolle der Vernunft, der Freiheit und der Verantwortung des Menschen hervor.
Es liegt an der heutigen Generation, die Vielfalt der Traditionen zu nutzen, um eine zeitgemäße Perspektive zu entwickeln. Diese Perspektive kann sowohl den islamischen Quellen treu bleiben als auch den aktuellen Herausforderungen gerecht werden. Die Würde des Menschen im islamischen Denken sollte nicht als starres Dogma verstanden werden, sondern als dynamisches Konzept, das immer wieder neu interpretiert und entfaltet werden kann.
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Der Vortrag wurde am 10.01.2025 unter dem Titel „Die Würde des Menschen im islamischen Denken: Eine Spurensuche von klassischen Konzepten bis zur Gegenwart“ auf Einladung der Steyler Missionar in Bonn gehalten. (abgerufen 14.01.2025; Alternativlink) ↩