Systemwandel in der IGMG?

Die Zementierung von Alleinherrschaft und die Erosion eines muslimischen Verbands

7 Minuten, 41 Sekunden

Die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş e. V. (IGMG) befindet sich in einer weiteren tiefen institutionellen Krise. Diese wurde durch die Satzungsänderung auf dem Generalkongress am 19. Mai 2024 ausgelöst, die das Amt des „Mütevelli Heyeti Başkanlığı“ (Vorsitz des Stiftungsrates/Kuratoriums - Abk.: MHB) einführte (Çiftçi 2025). Für die Kritiker des Verbandes markiert dieser Schritt den Höhepunkt eines Prozesses, der die IGMG von einer dem eigenen Anspruch nach zivilgesellschaftlichen Organisation hin zu einer stark autoritären, personenorientierten Struktur führt, wie der Ehrenvorsitzende Yavuz Çelik Karahan (im Folgenden YÇK, nicht mit dem Autor verwandt) (2025) ausführt. Diese Entwicklung manifestiert die generellen Herausforderungen muslimischer Repräsentanzstrukturen in Europa, insbesondere im Hinblick auf mangelnde Transparenz, die Dominanz einzelner Führungspersonen und eine wieder erstarkte Herkunftslandorientierung (Karahan 2022d).

Die Kritik an dieser Entwicklung kommt prominent aus den eigenen Reihen, insbesondere vom ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden Hakkı Çiftçi und dem Ehrenvorsitzenden YÇK. Ihre Analysen, festgehalten in zwei Video-Statements, beschreiben detailliert, wie die Führung unter Kemal Ergün die organisationelle Kontrolle zentralisiert und bereits schwache demokratische Mechanismen weiter ausgeschaltet hat.

1. Der strategische Umbau: Ein Amt für den Amtsinhaber

Die Einführung des Mütevelli Heyeti Başkanlığı (MHB) passt insofern auch in die Entwicklungen, die ich bereits 2020 in dem Beitrag „Transformationsprozess im Rückwärtsgang?“ (Karahan 2020b) prognostiziert hatte.

Die Konstruktion des MHB

Die Satzung schreibt vor, dass die Position des MHB nur von Personen besetzt werden kann, die zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten von jeweils fünf Jahren als IGMG-Vorsitzender absolviert haben. Hakkı Çiftçi (2025) stellt fest, dass Kemal Ergün die einzige Person ist, die diese Voraussetzung erfüllt. YÇK, der ebenfalls zwei Amtszeiten absolvierte, diente vor 2011, als die Amtszeiten noch vier Jahre betrugen, und fällt somit nicht unter die Regelung. Dies lässt laut Çiftçi (2025) darauf schließen, dass die Satzung (türk. Tüzük) „vollständig auf die Person Kemal Ergüns zugeschnitten“ sei.

Hakkı Çiftçi (2025) analysiert, dass die MHB-Struktur Kemal Ergün de facto in die Rolle des „Vakıf Sahibi“ (Gründer/Eigentümer der Stiftung) versetzt. Das entscheidende Merkmal dieses neuen Systems sei die fehlende Rechenschaftspflicht. In der IGMG sei ein System etabliert worden, in dem niemand zur Verantwortung gezogen werden könne. Im Gegensatz zur traditionellen islamischen Rechtsauffassung, wo der Mütevelli einem Richter (Hakim) untersteht und kontrolliert werden kann, seien in der IGMG die Kontrollbereiche der Führungsperson Ergün selbst überlassen (Çiftçi 2025).

Die Aushöhlung der Mitwirkung der Basis

Das neue Amt hebelt die Mitwirkung der Basis wenigstens durch die Delegierten aus. Der MHB (Ergün) ernennt künftig drei Kandidaten für den Generalvorsitz.

Çiftçi (2025) beschreibt diesen Prozess als eine „Hülle“ (türk. hülle: Tarnung), da der Mütevelli Heyeti ohne seinen Präsidenten Ergün weder tagen noch Entscheidungen treffen könne. Da die Wahlkommission anschließend vom Mütevelli Heyeti geleitet wird, führt Kemal Ergün auch hier automatisch den Vorsitz. Die Delegierten erhalten somit lediglich die vom MHB vorbereiteten und zur Abstimmung gestellten Kandidaten. Çiftçi (2025) konstatiert, dass dadurch die Wahl- und Stimmrechte der Organisation „vollständig usurpiert/geraubt (türk. gaspedilmek) und ihre freie Willensbildung zerstört“ werden. Er warnt, dass lediglich zwei weitere Satzungsänderungen nach 2026 zu einer „Vater-zu-Sohn-Sultanat“ (türk. Saltanat) führen könnten.

2. Der Weg zur Machtkonzentration und die Eliminierung der Kontrolle

Der Systemwechsel von 2024 ist der Endpunkt einer stufenweisen Machtkonzentration, die der IGMG-Führung seit 2011 vorgeworfen wird.

Gebrochene Versprechen und schrittweise Anpassung

Bei Amtsantritt im Jahr 2011 hatte Kemal Ergün laut Hakkı Çiftçi (2025) öffentlich zugesichert, nicht mehr als zwei Amtszeiten zu dienen. Er begründete dies damit, dass er lange Amtszeiten als moralisch unvertretbar ansehe, da diese zu „Inkompetenz, Rechtswidrigkeit, Korruption und Unmoral“ (türk. liyakaatsizlik, hukuksuzluk, yolsuzluk, ahlaksızlık) führen und diese Verfehlungen systemisch werden könnten.

Trotz dieser öffentlichen Bekenntnisse zeigen die strukturellen Anpassungen, dass die langfristige Sicherung der Führungsposition verfolgt wurde (nach Darstellung von Çiftçi und YÇK):

  • 2016: Einführung einer Idare Komisyonu (Verwaltungskommission).
  • 2018: Eine Satzungsänderung sichert die dritte Amtszeit als Istisna (Ausnahme).
  • 2021: Die Idare Komisyonu (Verwaltungskommission) wird in „Mütevelli“ umbenannt.
  • 2024: Die Einführung des „Mütevelli Heyeti Başkanlığı“.

Çiftçi (2025) beschreibt, dass Ergün diese Schritte „heimlich, hinterlistig“ unternommen habe, um die IGMG „zu seinem Privateigentum zu machen“.

Abschaffung der letzten Kontrollinstanz

Mit der Etablierung des MHB-Systems ist der Denetleme Kurulu (Revisionsausschuss) das einzige verbleibende Führungsorgan, das nicht von Kemal Ergün ernannt wird. Ehemalige Generalvorsitzende, darunter YÇK, sind laut der Satzung von 2011 auf Lebenszeit Mitglieder dieses Ausschusses (Çiftçi 2025).

Die IGMG-Führung plane, diese unabhängige Instanz ebenfalls zu beseitigen: Ein weiterer Generalkongress ist für den 2. November 2025 anberaumt, um den Revisionsausschuss „vollständig abzuschaffen“, so Çiftçi (2025). Die Kritiker sehen hierin den Versuch Ergüns, sich von denjenigen zu befreien, die ihm „Rechenschaft stellen“ und „Informationen“ verlangen könnten.

3. Die Eskalation und die Inszenierung der Führungsfigur

Die mangelnde Transparenz der Prozesse führte zum organisierten Widerstand des Ehrenvorsitzenden YÇK.

Rechtswidrige Verfahren und juristische Konfrontation

YÇK (2025), der als Ehrenvorsitzender, Delegierter und Mitglied des Revisionsausschusses fungiert, berichtet, dass ihm bis zum 10. Mai 2024 keinerlei Informationen über die Generalversammlung (Einladung, Protokoll, Satzungsänderungen) vorlagen.

YÇK (2025) forderte Kemal Ergün in einem Treffen auf, den Kongress abzusagen, da die Durchführung „den Verfahrensvorschriften und der Satzung nicht entspräche“. Nachdem der Dialog blockiert wurde – YÇK berichtet, dass Ergün seinen Telefonkontakt blockiert hatte – und auch ein schriftlicher Appell per Einschreiben im August 2024 unbeantwortet blieb, sahen sich YÇK und andere Delegierte gezwungen, rechtliche Schritte einzuleiten. Die Klage beim Registergericht erfolgte am 24. Mai 2024. YÇK (2025) erklärte, die Klage sei notwendig geworden, weil das neue Statut die Schaffung eines Mütevelli Heyeti vorsah, wodurch der MHB (also Kemal Ergün) zur „einzigen autorisierten Person in der IGMG“ würde, was dem System der Organisation widerspreche.

Diffamierung und juristische Gegenmaßnahmen

Die IGMG-Führung reagierte auf die internen Kritiker mit Repressalien berichten Çiftçi und YÇK:

  • Gegen YÇK wurde von Ergüns Anwälten eine "Schadenersatzklage in Höhe von 250.000 Euro" (wahrscheinlich ist damit eine Unterlassungsverfügung gemeint, Anm. d. Autors) sowie eine Strafanzeige (wahrscheinliche Strafbewährung der Unterlassungsverfügung, Anm. d. Autors) eingereicht (YÇK 2025).
  • Ihm wurde vorgeworfen, den Titel „Ehrenvorsitzender“ (Onursal Başkan) selbst erfunden zu haben. YÇK (2025) betont, dass dieser Titel ihm jedoch auf dem Generalkongress 2011 durch alle Delegierten verliehen wurde.

Die Auseinandersetzung zwischen zwei ehemaligen Generalvorsitzenden ist laut YÇK (2025) „gewissensverletzend, traurig und eine sehr negative Entwicklung“. Zudem seien unterstützende Delegierte und Mitarbeiter „Drohungen, Erpressungen und Diffamierungen“ ausgesetzt gewesen; einige hätten sogar „mit ihren Familien und Kindern verbundene Drohungen“ per anonymem Anruf erhalten (YÇK 2025).

Die öffentliche Inszenierung der Führung

Die interne Kritik, dass die Organisation vollständig auf Ergün zugeschnitten wird, wird aktuell durch die öffentliche Kommunikation von aktiven Funktionären in den Social-Media-Kanälen der Zentrale und der Regionalverbände scheinbar unfreiwillig bestätigt. Die Kanäle werden mit Videos und Memes geflutet, die Kemal Ergün als zentrale Figur darstellen und eine völlige Überhöhung der Person Ergüns demonstrieren. Die Machart dieser Materialien ähnelt stark den offiziellen Publikationsformaten der IGMG, was die Vermutung einer gemeinsamen, zentralen Quelle für die Erstellung und Verbreitung nahelegt.

Diese Inszenierung verstärkt die von Çiftçi (2025) geäußerte Sorge, dass Führungspersönlichkeiten in muslimischen Gemeinschaften dazu neigen könnten, Macht unbegrenzt zu nutzen und möglicherweise „mit göttlichem Attribut“ (türk. uluhiyet vasfıyla) zu handeln. YÇK (2025) merkte in diesem Zusammenhang an, dass Ergün mit dem Mütevelli-System den Anspruch erhebe, nicht nur IGMG-Vorsitzender zu sein, sondern „der Führer der Millî Görüş Bewegung“ (türk. Milli Görüşün lideri).

4. Strukturelle Defizite und die Gefahr der Autokratie

Die internen Auseinandersetzungen in der IGMG reflektieren strukturelle Herausforderungen, wie mangelnde Transparenz, fehlende Kontrolle und die Dominanz einzelner Führungspersonen. Die IGMG zieht sich bereits seit Längerem weitgehend aus deutschsprachigen öffentlichen Diskursen zurück.

Çiftçi (2025) befürchtet, dass das neue System die Tür für Inkompetenz, Unmoral, Rechtswidrigkeiten und Korruption öffnet, da niemand mehr Rechenschaft verlangen kann. Er erinnert daran, dass die Organisation das „Vermächtnis der Umma“ sei, aufgebaut durch die Opfer unzähliger „ungenannter Helden“, und nicht das Privateigentum von Kemal Ergün.

Nach Çiftçi entspricht die Führungsstruktur bereits 2021, laut seiner damaligen Kritik, dem Brauch der Sultane (türk. saltanat), da die „persönliche Entscheidungsmacht“ alles vereinnahme (Karahan 2021a). Er kritisiert zudem, dass die Mechanismen, die bei strukturellen Entscheidungen wie Wahlen oder Satzungsänderungen angewandt wurden, dem „iranischen Schia-Modell“ glichen, da sie nachträglich nur die Genehmigung autoritärer Zwänge darstellten (Karahan 2021a).

Die aktuelle Krise untermauert die Beobachtung, dass sich am gesamtgesellschaftlichen Zusammenleben desinteressierte, herkunftslandorientierte Funktionsträger in den Ämtern festgesetzt haben (Karahan 2022d), während die IGMG Gefahr läuft, vollständig in eine autokratische Struktur überführt zu werden. Die juristischen Schritte von YÇK und anderen Delegierten könnten zwar ein Versuch sein, die institutionellen Prinzipien und die Rechtsstaatlichkeit innerhalb der Organisation zu verteidigen. Große Erfolgsaussichten dürften sie jedoch nicht haben.


Quellenverzeichnis

Çiftçi, Hakkı (2025). IGMG’nin eski Başkan Yardımcısı Hakkı Çiftçi, IGMG tüzüğüne dayalı olarak tüm detayları açıklıyor. Video-Statement, veröffentlicht am 25.10.2025.

Karahan, Engin (2020a). Französische Revolution in der IGMG - eine IGMG, viele Gesichter?. Veröffentlicht am 21.11.2020 auf karahan.net.

Karahan, Engin (2020b). Transformationsprozess im Rückwärtsgang?. Veröffentlicht am 18.10.2020 auf karahan.net.

Karahan, Engin (2021a). Vorstandskrise am Vorabend der IGMG Generalversammlung. Veröffentlicht am 31.05.2021 auf karahan.net.

Karahan, Engin (2022a). Frankreichs Islampolitik führt zu Spannungen in der IGMG. Veröffentlicht am 22.03.2022 auf karahan.net.

Karahan, Engin (2022b). Dilettantismus oder was die muslimische Gemeinschaft Besseres verdient hat. Veröffentlicht am 26.10.2022 auf karahan.net.

Karahan, Engin (2022c). IGMG ohne “Milli Görüş” - Fakt oder Fiktion?. Veröffentlicht am 28.01.2022 auf karahan.net.

Karahan, Engin (2022d). Heimat finden im Fremden? Auseinandersetzungen in der Islamischen Gemeinschaft Millî Görüş e. V. (IGMG) zwischen Ankommen und Fremdbleiben. Veröffentlicht am 04.11.2022 auf karahan.net.

Karahan, Yavuz Çelik (YÇK) (2025). IGMG’nin eski Genel Başkanı ve Onursal Başkanı Yavuz Çelik Karahan önemli açıklamalar. Video-Statement, veröffentlicht am 25.10.2025.

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