Der zynische Pragmatismus

Über eine neue Form der Amoralität im Diskurs

4 Minuten, 7 Sekunden

Der zynische Pragmatismus

Dieser Beitrag ist eine kritische Auseinandersetzung mit einer Haltung, die jüngst in einem Video einer jungen muslimischen Aktivistin exemplarisch zutage trat. Es geht mir dabei ausdrücklich nicht um die Verurteilung der konkreten Person oder die Nennung von Namen, sondern um die Analyse eines bestimmten Akteurstyps und seiner Haltung im gesellschaftlichen Diskurs. Diese Haltung, so meine vorweggenommene Schlussfolgerung, halte ich für problematisch und mit Blick auf den gesellschaftlichen Diskurs für disruptiv.

In einer persönlichen Rückschau auf ihre nun zu Ende gegangene Zeit in muslimischen Verbänden beklagt sie sich unter anderem über Burnouts und die Zermürbung durch gesellschaftliche wie interne Kämpfe. Die Schlussfolgerungen, die sie daraus zieht, offenbaren jedoch einen zynischen Pragmatismus, der einer genaueren Analyse bedarf.

Diese Haltung, die sinnbildlich für einen breiteren Akteurstyp steht, wird oft mit großem moralischem Impetus vorgetragen, entpuppt sich bei näherer Betrachtung jedoch als zutiefst widersprüchlich, intellektuell unredlich und in ihrem Kern zynisch.

Die persönliche Erschöpfung (Burnout) ist dabei oft nicht nur ein "Arbeitsunfall", sondern die fast unvermeidliche materielle Konsequenz dieser ideologischen Widersprüche, die den Akteur in einen unlösbaren, selbstzerstörerischen Kampf zwingen.

1. Die Ideologie: Das deterministische Weltbild

Am Anfang dieser Haltung steht ein absolutistisches und deterministisches Weltbild. Eine spezifische Form der "strukturellen Ungerechtigkeit" (oft Rassismus) wird zu einer allumfassenden, totalisierenden Kraft erklärt.

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In dieser Weltsicht ist das "System" die einzige Realität, das alle Akteure unausweichlich zu "Tätern oder Opfern" formt. Das Individuum und seine Fähigkeit zur moralischen Selbstreflexion und Handlungsfähigkeit werden für bedeutungslos erklärt. Eine Welt ohne diese alles bestimmende, negative Kraft scheint in dieser Perspektive nicht nur unmöglich, sondern ist nicht einmal denkbar.

2. Der unlösbare Widerspruch: Die amoralische Doppelmoral

Diese Ideologie zwingt ihre Anhänger nun in einen fatalen, unlösbaren Widerspruch – eine amoralische Doppelmoral, die das Handeln und die Ratschläge prägt.

  • Gegenüber der Gesamtgesellschaft (Extern): Hier wird eine unnachgiebige, maximale moralische Fallhöhe aufgebaut. Man fordert vehement den Kampf, das "Aufbegehren" gegen den als übermächtig dämonisierten externen Feind.

  • Gegenüber der eigenen Gruppe (Intern): Hier bricht dieser moralische Anspruch vollständig in sich zusammen. Zuvor selbst als "schlecht und problematisch" analysierte Pathologien - etwa Narzissmus in Führungspositionen, toxisches Autoritäts- und Statusdenken oder Strukturen, die junge Talente fahrlässig "ausbrennen" lassen - werden plötzlich zu einer unantastbaren, "etablierten gelebten Praxis" (oder "Religiosität") verklärt.

Die klare moralische Verpflichtung, auch die eigenen Strukturen zu hinterfragen und zu verbessern, wird aktiv verneint. Es entsteht eine kognitive Dissonanz: Man soll einen unbesiegbaren externen Feind bekämpfen, darf aber die eigenen, dysfunktionalen Werkzeuge nicht reparieren.

3. Der doppelte Zynismus: "Mittel zum Zweck" nach Innen und Außen

Dieser Pragmatismus gipfelt in einem doppelten Zynismus, der sich als "Mittel zum Zweck" tarnt und sowohl nach außen als auch nach innen wirkt.

Erstens, der Missbrauch externer Strukturen: Ähnlich verlogen ist die Strategie, externe Förderstrukturen zu missbrauchen. Man postuliert, ein Problem (z.B. Islamismus) gäbe es in der Form nicht, leitet aber gleichzeitig Präventionsprojekte dagegen. Man nimmt Gelder von Strukturen (z.B. dem Staat), deren Motive man verachtet, um sie für einen "geheimen Zweck" – die Finanzierung der eigenen Agenda – zu verwenden, der dem Förderziel diametral entgegensteht.

Zweitens, die Kapitulation nach Innen: Der Gipfel dieser Haltung ist der Ratschlag an junge, muslimische Engagierte, die internen, schädlichen Verbandsstrukturen ebenfalls nur als "Mittel zum Zweck" zu sehen und zur strategischen Akzeptanz zu schreiten. Anstatt sie zu ermutigen, diese Strukturen zu reformieren - was eigentlich in ihrer Macht läge -, sollen sie die Augen vor der internen Verkommenheit verschließen und sie als "etablierte gelebte Praxis" hinnehmen.

4. Das Symptom: Der Burnout als Konsequenz

Der persönliche Burnout, den viele dieser Akteure erleben, ist die zwangsläufige physische Konsequenz dieses ideologischen Widerspruchs und des doppelten Zynismus. Der Versuch, in dieser kognitiven Dissonanz (unbesiegbarer externer Feind, unantastbare interne Pathologien, unaufrichtige externe Mittelbeschaffung) ethisch zu handeln, muss zur materiellen Erschöpfung führen. Die Praxis zerschellt an der unlogischen Theorie.

5. Fazit: Die Bankrotterklärung an die Moral

Diese Haltung ist moralisch verkommen. Sie ist die intellektuelle Bankrotterklärung einer Bewegung, die ihren eigenen ethischen Anspruch verrät. Sie ist eine zynische und unaufrichtige Kosten-Nutzen-Rechnung, die der Jugend rät , die Verantwortung für die Besserung im Inneren von vornherein zu opfern, um Ressourcen für den Kampf gegen die "verhasste Gesellschaft" zu haben.

Besonders problematisch ist diese Haltung mit Blick auf junge Akteure in der muslimischen Community: Zum einen nimmt sie ihnen die Hoffnung auf selbst die geringste Form der Wirkmächtigkeit im eigenen und gesellschaftlichen Leben, zum anderen leitet sie diese im Sinne eines neuen, vermeintlich "islamischen Aktivismus" dazu an, jegliche Moral über Bord zu werfen. Dies ist eine zutiefst disruptive und amoralische Haltung, deren langfristige gesellschaftliche Folgen nicht unterschätzt werden dürfen.

Eine Verantwortung, die nur selektiv gilt, ist keine. Eine Moral, die man nur von anderen einfordert, aber auf die eigene Gruppe nicht anwendet, ist pure Heuchelei. Diese Form des "Pragmatismus" widerspricht jeglichem, auch nur geringfügig auf Moralität und innerer Wahrhaftigkeit aufbauenden (religiösen) Selbstverständnis.

Wirkliche Verantwortung bedeutet, sich der Konsequenzen des eigenen Handelns immer bewusst zu sein und die Reproduktion aller schädlichen Strukturen zu bedenken, nicht nur derer, die man sich gerade als Gegner ausgesucht hat.

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