Der stille Protest der Stipendiaten der Deutschlandstiftung Integration gegen Kanzler Friedrich Merz war eindrucksvoll. Doch das Schweigen danach offenbart ein problematisches Verständnis von Verantwortung bei denen, die eigentlich die Zukunft mitgestalten wollen.
Als ich das Video von dem stillen Protest der Stipendiaten der Deutschlandstiftung Integration sah, war ich zunächst beeindruckt. Ein Freund hatte mir den Clip zugespielt. Der Anlass war die Verleihung des „Talisman“-Preises der Stiftung am 19. November 2025 in Berlin. Während der Rede von Bundeskanzler Friedrich Merz erhoben sich Dutzende junge Menschen und verließen schweigend den Saal.
Der Auslöser war nicht etwa eine erneute Entgleisung in seiner aktuellen Rede. Vielmehr war es die Präsenz des Kanzlers selbst und die Erinnerung an seine frühere Aussage über das „Stadtbild“. Eine Chiffre, die bei den Anwesenden einen wunden Punkt trifft. Denn diese jungen Menschen wissen aus Erfahrung: Wenn über das „Stadtbild“ gesprochen wird, das sich verändert habe, sind meist sie gemeint. Nicht wegen ihres Verhaltens, sondern wegen ihres Aussehens, der Herkunft ihrer Eltern oder ihrer religiösen Sichtbarkeit. Es ist das Potential in dieser früheren Aussage, den Migrationshintergrund an sich zum Problem zu erklären, das diesen Protest motivierte.
Mich beeindruckte die Form: Kein Geschrei, kein Tumult, der die eigentliche Botschaft überdeckt hätte. Es war eine würdevolle, fast choreografierte Stille. Die Protestierenden trugen Aufkleber mit der Aufschrift „Wir sind das Stadtbild“. Sie hatten das Momentum auf ihrer Seite. Sie hatten die Aufmerksamkeit des Kanzlers und des Saals.
Und dann? Dann kam nichts.
Die Flucht in die Anonymität
Die Öffentlichkeit und die Presse erfuhren über Social Media von dem Vorfall. Doch als das Thema viral ging und Journalisten nachfragten, um die Motive zu verstehen und einzuordnen, stießen sie auf eine Mauer des Schweigens. Wie unter anderem t-online berichtete, verweigerten die Stipendiaten kollektiv die Aussage. Man wolle nicht mit der Presse reden, hieß es. Die Angst, dass dies der eigenen Karriere schaden könnte, dass man als „schwierig“ abgestempelt würde, schien größer zu sein als das Anliegen selbst. Man verschwand in der Anonymität der Gruppe.
Hier kippt meine Bewunderung in Unverständnis. Wer auf einer solchen Bühne gegen den Regierungschef protestiert, der fordert den Diskurs heraus. Wer „Wir sind das Stadtbild“ auf der Brust trägt, aber dann bei Nachfragen abtaucht, sendet ein zutiefst widersprüchliches Signal.
Es wirkt, als wolle man zwar den moralischen Applaus für den Widerstand, aber nicht die Verantwortung für die eigene Haltung übernehmen. Es offenbart sich hier ein Akteurstypus, der mir zunehmend Sorgen bereitet: Eine Generation von „High Potentials“, die den Anspruch erhebt, die Elite von morgen zu sein, aber die Mechanismen des öffentlichen Diskurses nur selektiv bedienen will.
Strategischer Skandal statt aufrichtiger Diskurs
Dieses Verhalten erinnert mich an eine Episode aus meiner ehrenamtlichen Arbeit bei der Alhambra Gesellschaft e.V.. Vor einigen Jahren, kurz nach der Gründung des Vereins, trat eine renommierte Wissenschaftlerin an uns heran. Sie präsentierte uns eine „Strategie“, wie wir den Diskurs zu „unseren“ Gunsten - also ihrer Vorstellung nach im Sinne der postmigrantischen Gesellschaft - verschieben könnten. Ihr Vorschlag: Wir sollten gezielt provokante Thesen aufstellen, ja sogar Skandale inszenieren, um die Grenzen des Sagbaren zu weiten. Sie würde dann von der Seitenlinie aus, in ihrer Rolle als Wissenschaftlerin, das Ganze einordnen und kontextualisieren.
Wir waren damals schockiert. Unser Ansatz war immer der des Brückenbauens, der aufrichtigen Auseinandersetzung und des gesitteten, konstruktiven Streits, nicht der manipulativen Inszenierung. Da wir uns für ihre Zwecke nicht instrumentalisieren ließen, bezeichnete sie uns später einmal pikiert als „volatil“ – wir waren für sie schlicht nicht berechenbar und steuerbar.
Diesen Begriff würde ich heute gerne zurückgeben. Denn was ist volatiler als eine Haltung, die mal den radikalen Protest sucht und im nächsten Moment aus Karriereangst verstummt? Es ist eine Form des zynischen Pragmatismus: Man nutzt die Werkzeuge des Systems (hier: die mediale Aufmerksamkeit), verweigert aber die moralische Verpflichtung, die damit einhergeht - nämlich Rede und Antwort zu stehen.
Die drei Typen der Auseinandersetzung
Wenn ich auf meine eigene Jugend und die Entwicklung der muslimischen und migrantischen Community zurückblicke, lassen sich - grob vereinfacht - drei Typen der Auseinandersetzung mit der Mehrheitsgesellschaft erkennen. Diese Typologie ist sicher nicht wissenschaftlich erschöpfend, aber sie hilft, das aktuelle Dilemma zu verstehen:
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Der Rückzug (Isolation): Jene, die die „Welt da draußen“ primär als Zumutung empfanden. Sie zogen sich in die eigene In-Group zurück - in die Moschee, den Kulturverein, die Teestube. Ihr Ziel war es, möglichst unsichtbar zu bleiben, keine Ansprüche zu stellen und im Gegenzug in Ruhe gelassen zu werden.
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Der Brückenbau (Partizipation): Diejenigen, die verstanden, dass ein getrenntes Leben eine Illusion ist. Sie gingen in den Konflikt, in den Dialog, in die Parteien, Vereine und Moscheen. Sie verstanden sich als Übersetzer und Streiter in beiden Welten. Sie machten sich verwundbar, weil sie Gesicht zeigten - und dafür oft von beiden Seiten Prügel bezogen.
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Die Flucht (Assimilation): Diejenigen, die mit ihrer „Herkunftsgruppe“ eigentlich nichts zu tun haben wollten. Sie schämten sich oft für das „Andere“, das Unperfekte ihrer Eltern, ihre Herkunftskultur, Sprache und Religion. Ihr Ziel war das nahtlose Aufgehen in der Mehrheitsgesellschaft, fixiert auf individuellen Erfolg und Karriere. Das Motto war: Bloß nicht als „der Migrant“ auffallen, solange es nicht dem eigenen Interesse dient.
Mit den Typen 1 und 3 konnte ich mich nie identifizieren. Doch was wir heute erleben, scheint mir eine seltsame Mutation des Typus 3 zu sein.
Viele der heutigen Akteure, die oft als privilegierte Stimmen auftreten, scheinen ihr halbes Leben im Modus der Anpassung verbracht zu haben. Nun, da Identitätspolitik eine Währung geworden ist, entdecken sie den Protest. Doch sie agieren dabei aus einer Position der Überkompensation heraus. Sie wollen den „Widerstand“, aber bitte ohne das Risiko, das der „Brückenbauer“ (Typus 2) tagtäglich trägt.
Das falsche Signal an die eigene und nächste Generation
Das eigentliche Problem an der Aktion der Stipendiaten ist nicht der Protest gegen Merz - dieser war in der Form legitim und verständlich. Das Problem ist die Botschaft, die durch das anschließende Schweigen an die eigene und die nächste Generation gesendet wird.
Wenn die „Elite“ der jungen Migranten - jene, die Stipendien erhalten, die Zugang zu Kanzlern haben oder gar einen Lehrstuhl besetzen - signalisiert, dass man seine Meinung nur anonym und im Schutz der Masse äußern kann, weil man sonst vernichtet wird: Was sagt das dem Jugendlichen in Neukölln oder Marxloh?
Es vermittelt Fatalismus. Es lehrt, dass echte, aufrechte Partizipation unmöglich oder zu gefährlich ist. Es fördert eine Haltung, die sich in performativen Gesten erschöpft, anstatt die mühsame Arbeit der Veränderung durch Argument und Auseinandersetzung zu leisten.
Wer das „Stadtbild“ sein will, muss sich auch trauen, in diesem Bild sichtbar zu bleiben, wenn die Kameras laufen und die Fragen unangenehm werden. Alles andere ist kein politischer Protest, sondern ein Flashmob mit Karrierevorbehalt.
Wer glaubwürdig für eine offene Gesellschaft streiten will, muss bereit sein, Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen - auch wenn es ungemütlich wird. Das ist der Preis der Freiheit. Ihn nicht zahlen zu wollen, aber die Dividende einzustreichen, ist zu wenig.




