Warum wählen türkeistämmige und migrantische Wähler die AfD?

Eine Analyse

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Warum wählen türkeistämmige und migrantische Wähler die AfD?

Die Bundestagswahl 2025 hat ein ungewöhnliches und teils irritierendes Phänomen hervorgebracht: Die AfD konnte mit 20,8 % ihr bislang bestes Wahlergebnis erzielen. Was viele überraschte, war der signifikante Anteil der Stimmen aus migrantischen Communities, darunter türkei-, bosnisch und marokkanischstämmige Wähler. Eine Kurzstudie des DeZIM-Instituts1, die kurz vor der Wahl veröffentlicht wurde, hatte bereits prognostiziert, dass 19,7 % der Befragten aus der Türkei und dem Nahen Osten die AfD wählen würden – ein Wert, der dem tatsächlichen Ergebnis nahekommt. Doch was motiviert Menschen mit Migrationserfahrung dazu, eine Partei zu wählen, die migrationsfeindliche Politik betreibt? Und warum bleibt dieses Wahlverhalten so wenig erforscht?

Die AfD ist die Partei mit dem niedrigsten Wähler*innenpotenzial unter allen Befragten mit und ohne MH: Nur 21,6 % können sich vorstellen, diese Partei zu wählen. Unter Menschen mit MH variieren die Werte je nach Herkunftsregion: Befragte mit Bezügen zu EU-Ländern (17,6 %) und MENA/Türkei (19,7 %) zeigen geringere Neigungen, die AfD zu wählen. Höhere Werte finden sich bei Personen mit Bezügen zur ehemaligen Sowjetunion (29,2 %). (Aus der PM der DeZIM-Kurzstudie)

Vernachlässigte Wählergruppen in der Wahlforschung

Obwohl die Zahl der Wähler mit Migrationshintergrund in Deutschland stetig wächst, bleibt ihr Wahlverhalten in der politischen Analyse oft unterrepräsentiert. Weder am Wahlabend noch in nachfolgenden Analysen wird ausreichend auf diese Gruppe eingegangen. Studien wie die DeZIM-Kurzstudie sind seltene und wichtige Ansätze, die zeigen, dass klassische Annahmen, wie die vermeintlich selbstverständliche Wahl der SPD durch Migranten, längst überholt sind. Gerade in Zeiten knapper Wahlergebnisse ist es entscheidend, die Motive dieser Wählergruppen zu verstehen. Warum wählen sie? Warum nicht? Und warum entscheiden sie sich für bestimmte Parteien? Hier gibt es großen Nachholbedarf.

Transnationale Einflüsse und soziale Dynamiken

Ein wichtiger Faktor für das Wahlverhalten türkeistämmiger und anderer migrantischer Wähler ist der transnationale Einfluss ihrer Herkunftsländer. In diesen, wie zum Beispiel in der Türkei, hat sich in den letzten Jahren ein parteiübergreifender, flüchtlingsfeindlicher Diskurs etabliert, der durch soziale Medien direkt in die Communities in Deutschland übertragen wird. Dieser Diskurs, der Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan oder vom afrikanischen Kontinent stark ablehnt, wird von vielen als "Mainstream" wahrgenommen und beeinflusst auch die Wahrnehmung und Einstellungen der Communities hierzulande. Was in Deutschland in der Migrationsfrage als radikal gilt, ist in der Türkei oft politischer Alltag – ein Phänomen, das die Haltung vieler Wähler dort und hier prägt.

Darüber hinaus zeigt sich, dass diese Ablehnung von Flüchtlingen nicht nur in konservativen oder religiösen Kreisen verankert ist. Auch nationalistische oder eher religionsdistanzierte Milieus sind empfänglich für diese Narrative. Der Hass auf Geflüchtete wird somit zu einem verbindenden Element sehr unterschiedlicher Gruppen innerhalb der türkeistämmigen Community.

Hinzu kommt ein soziales Abgrenzungsphänomen: Etablierte Migrantengruppen grenzen sich häufig von neu angekommenen Geflüchteten und anderen Migranten ab, beispielsweise aus Syrien, Afghanistan oder Südost-Europa. Diese Abgrenzung dient oft dazu, die eigene soziale Position zu stabilisieren. Selbst die gemeinsame Religion schützt dabei nicht vor ausgrenzenden Haltungen.

Werte, Identität und traditionelle Familienbilder

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Frage nach Werten und Identität. Viele migrantische Wähler teilen konservative Ansichten in Bezug auf Familie, Geschlechterrollen und Sexualität, die von der AfD aufgegriffen und verstärkt werden. Insbesondere die Ablehnung von LGBTQ+ und die Betonung traditioneller Familienbilder spielen eine zentrale Rolle. Diese Vorbehalte sind häufig religiös oder kulturell motiviert und werden zunehmend durch Social-Media-Diskurse verstärkt.

Der anti-queere Diskurs der AfD findet in migrantischen Communities häufig Anklang, da er mit bestehenden kulturellen und religiösen Vorbehalten korrespondiert. Diese Narrative werden durch Social Media verstärkt und mit vermeintlich religiösen Argumenten untermauert. Dabei bedienen sie nicht nur kulturelle, sondern auch religiöse Identitätsfragen, was die AfD für einige Wählergruppen anschlussfähig macht.

Interessant ist dabei der Einfluss von Motiven, die ursprünglich aus identitären oder diversitätsfeindlichen Kontexten stammen – darunter auch Incel-Narrative. Diese Haltungen werden in muslimischen Kontexten durch religiöse Rahmungen quasi inkorporiert, sodass sie als Teil einer vermeintlich authentischen Tradition erscheinen. Dadurch erhalten sie eine Legitimität, die sie in konservativen und religiösen Kreisen anschlussfähig macht.

Protestwahl: Frustration und Trotz

Neben transnationalen Einflüssen und kulturellen Faktoren spielt auch die Frustration über die deutsche Politik eine entscheidende Rolle. So mancher Migrant fühlt sich politisch nicht repräsentiert und gesellschaftlich nicht zugehörig. Diese Entfremdung kann zu einer Protestwahl führen, bei der die AfD als bewusste destruktive Option gewählt wird – quasi als „schlechteste Option“ für Deutschland. Besonders junge, konservative Wähler scheinen in dieser Desillusionierung eine Möglichkeit zu sehen, ihren Frust und Trotz auszudrücken.

Die Wahl der AfD kann dabei als Ausdruck einer Wagenburg-Mentalität verstanden werden: Das Gefühl, von der deutschen Gesellschaft ausgeschlossen zu sein, führt zu einer bewussten Abgrenzung. In einigen Fällen wird diese Distanz so weit getrieben, dass eine generelle Ablehnung der deutschen Gesellschaft identitätsstiftend wird. Dies betrifft insbesondere junge Wähler, die sich durch eine Kombination aus konservativen Werten und destruktivem Trotz auszeichnen.

Fazit: Ein vielschichtiges Phänomen

Das Wahlverhalten migrantischer Wähler bei der Bundestagswahl 2025 zeigt, wie komplex und vielschichtig die Gründe für politische Entscheidungen sein können. Transnationale Einflüsse, Wertefragen, soziale Dynamiken und Protestmotive spielen dabei eine zentrale Rolle. Besonders auffällig ist, dass die AfD in sehr unterschiedlichen Milieus – von religiös-konservativen bis hin zu nationalistischen oder religionsdistanzierten Gruppen – Unterstützung finden konnte.

Doch gleichzeitig zeigt sich, wie wichtig es ist, migrantische Communities politisch ernst zu nehmen und ihre Anliegen zu verstehen. Diese Gruppen werden bei zukünftigen Wahlen entscheidend sein – nicht nur wegen ihrer wachsenden Zahl, sondern auch wegen ihrer oft unvorhersehbaren Motivationen. Es ist höchste Zeit, die Wahlforschung und politische Ansprache um diese Perspektiven zu erweitern, um die Dynamiken einer pluralistischen Gesellschaft besser zu verstehen.


  1. Wie wählen Menschen mit Migrationshintergrund?, Pressemitteilung (DeZIM, abgerufen am 25.02.2025, Archive-Link).

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