Digitale Bildungsräume und Männlichkeitsbilder

Risiken und Potenziale für die Bildungschancen

6 Minuten, 49 Sekunden

Digitale Bildungsräume und Männlichkeitsbilder

Die Schule hat schon lange kein Monopol mehr auf Sozialisation und Bildung. Wer verstehen will, wie sich junge Männer heute identitär verorten, muss in ihre digitalen Lebenswelten blicken. Dort wird nicht nur unterhalten, sondern ein normatives Weltbild geformt, das Bildungschancen massiv gefährdet.

Wenn wir in Deutschland über „Bildung“ sprechen, denken wir reflexartig an Schulen, Lehrpläne und das Klassenzimmer. Wir debattieren über Ausstattung, Lehrermangel und PISA-Ergebnisse. Doch wenn es um die existenziellen Fragen junger Männer geht – „Wer bin ich?“, „Wie werde ich attraktiv?“, „Wie verdiene ich Respekt?“ – ist die Schule als Institution zunehmend irrelevant geworden. Wir beobachten einen fundamentalen Paradigmenwechsel: Die wirkmächtigste Sozialisation findet heute nicht mehr in formalen Bildungseinrichtungen statt, sondern in den hochgradig professionalisierten Ökosystemen von TikTok, Instagram und YouTube.

Zu verstehen, wie diese digitalen Lernräume funktionieren, ist kein Nebenprojekt einer „zeitgemäßen Pädagogik“, sondern Voraussetzung, um bestimmte Jugendliche überhaupt noch zu erreichen.
Diese Plattformen fungieren längst als primäre Bildungsakteure für normative Fragen. Wer diesen Raum ignoriert oder als bloße Unterhaltung abtut, überlässt die Deutungshoheit Akteuren, die oft gezielt antidemokratische und anti-emanzipatorische Ziele verfolgen.

Der digitale Lehrplan: Männlichkeit als Inszenierung

Doch was genau steht auf diesem neuen Lehrplan? Unter anderem finden wir dort auch Konstruktionen einer spezifischen Männlichkeit, die als Antwort auf die Orientierungslosigkeit vieler junger Männer angeboten wird. Social Media fungiert hierbei als ein kuratierter Raum für Identität und Gemeinschaft. Die Vermittlung dieser Inhalte erfolgt jedoch selten über diskursive Auseinandersetzung oder rationale Argumente, wie wir es aus klassischen Bildungskontexten kennen. Vermittelt wird nicht über Argumente, sondern primär über Bilder, Stil und Atmosphäre.

In hochglanzpolierten Bildern wird eine Welt inszeniert, die einfache Lösungen verspricht: Physische Dominanz, zur Schau gestellter Luxus und eine bedingungslose, maskuline „Brüderlichkeit“ dienen als visuelle Chiffren für Erfolg. Diese Inszenierung wird mit dem Versprechen des „Self-Improvement“ verknüpft. Die Botschaft ist so simpel wie verfänglich: „Folge diesem Pfad der Härte und Disziplin, und du wirst den Respekt erhalten, der dir im echten Leben verwehrt bleibt.“ Diese emotionale Ansprache wirkt häufig stärker als Unterricht, Präventionsprojekte oder Beratungsangebote, weil sie die Komplexität moderner Lebensrealitäten radikal reduziert und damit ein Gefühl von Klarheit und Ordnung verspricht.

Analysiert man die Inhalte, die auf diesem „digitalen Lehrplan“ stehen, offenbart sich ein zutiefst toxisches Weltbild. Im Zentrum steht eine hegemoniale Männlichkeit, die Dominanz, emotionale Abstumpfung und Kontrolle als einzig valide Form von Stärke definiert - getreu dem Motto „Real men lead“. Flankiert wird dies von einem strikten Antipluralismus, der eine klare „Wir-gegen-Sie“-Rahmung etabliert. Vielfalt, etwa in Form von Feminismus oder LGBTQ+-Rechten, wird nicht als gesellschaftliche Realität, sondern als existenzielle Bedrohung der eigenen Identität inszeniert. Besonders problematisch ist, wie sehr dieses Weltbild in die Isolation führt: Einwände seitens der Schule, der Eltern oder der Mehrheitsgesellschaft werden in diesem geschlossenen Weltbild nicht als Anlass zur Reflexion, sondern als Beweis für die Richtigkeit des eigenen Weges gewertet. Wer kritisiert, ist Teil der „Matrix“, die den Mann schwächen will.

Das Chamäleon: Wie westliche Mythen „muslimisch“ werden

Diese Inhalte erzeugen auch bei muslimischen Jugendlichen in einer überraschenden Form Resonanz: Die Inhalte des toxisch-männlichen Spektrums sind extrem wandelbar und anpassungsfähig. Sie stellen perfekte Anschauungsmaterialien dafür dar, wie globale Narrative lokal adaptiert werden können. Was in der pädagogischen Praxis oft vorschnell als „islamisch“ oder „traditionell“ gellabelt werden dürfte, ist bei genauerer Betrachtung oft gar kein theologisches Phänomen, sondern ein soziologisches Mimikry.

Wir können hier beobachten, wie ein ursprünglich westlicher Mythos – die Narrative der „Manosphere“, der „Red Pill“-Foren oder der Incel-Szene – in muslimische Kontexte einsickert und dort plötzlich als vermeintlich eigener, „authentischer“ Diskurs auftritt. Muslimische Influencer in der sogenannten „Akhi-Sphere“ kopieren Figuren wie Andrew Tate, setzen sich aber eine Kufiyya auf und zitieren einen Hadith dazu. So verwandelt sich der säkulare „High Value Man“ in den frommen Patriarchen, und das romantisierte Bild der westlichen TradWife wird zur TradMuslimah. Durch diese Camouflage erscheint die Ideologie nicht als importierter Antifeminismus, sondern als Verteidigung der eigenen, vermeintlich authentischen Identität gegen den „Westen“. Der Glaube wird hier zum bloßen Vehikel für eine patriarchale Ideologie degradiert, die einen konstruierten Neo-Traditionalismus als antimodernistische Rebellion in Stellung bringt.

In der Praxis führt diese „Islamisierung“ globaler Trends zu perfiden Umdeutungen. Die Rolle des „Providers“ wird auf die des materiellen Versorgers reduziert, was klare, autoritäre Hierarchien schafft („Wer zahlt, bestimmt“) und religiös legitimiert wird. Noch gefährlicher ist die Umdeutung emotionaler Konzepte: Die „Ghirah“ (eine Art schützende Eifersucht) wird von einer Tugend der Fürsorge zu einem Instrument der Überwachung umfunktioniert. Die Botschaft lautet: Wenn du deine Frau nicht kontrollierst, liebst du sie nicht und hast keine Ehre – du bist ein „Dayyuth“. Ähnlich verhält es sich mit der religiösen Aufforderung, den Blick zu senken („Lower the Gaze“). Ursprünglich ein Gebot der männlichen Bescheidenheit und Selbstkontrolle, wird es zur Waffe gegen Frauen umgedreht („Ich senke meinen Blick und hole mir damit die Macht über dich zurück!“) und betreibt so ein religiös verbrämtes Victim Blaming.

Die Querfront: Nationalismus und identitäre Allianzen

Neben dieser religiösen Aufladung beobachten wir ein zweites, nicht minder brisantes Phänomen: das Erstarken ultranationalistischer Strömungen und das Entstehen neuer identitärer Allianzen. Männlichkeit wird hier nicht nur theologisch, sondern ethnisch essentialisiert – etwa als spezifisch „türkisch“ – und mythisch mit Attributen wie Mut und unbarmherziger Härte aufgeladen.

Hier entsteht eine beunruhigende Querfront der Ausgrenzung. Galten rechtsextreme deutsche Identitäre und türkische Ultranationalisten (wie die Grauen Wölfe) früher als verfeindet, eint sie heute zunehmend ein gemeinsames Feindbild: Queer, Trans und der Feminismus. Das verbindende Narrativ lautet: „Wir echten Männer – egal ob Deutscher oder Türke – gegen die verweichlichte, bunte Moderne.“

Die Ablehnung von Queerness liefert das verbindende Brückennarrativ, das aus Gegnern Verbündete macht. Der Begriff der Ehre dient dabei als Waffe zur Hierarchisierung und zur Abwertung anderer Lebensentwürfe, wodurch eine Allianz entsteht, die sich nicht mehr primär über Herkunft, sondern über den gemeinsamen Hass auf die offene Gesellschaft definiert.

Konsequenzen für die Bildungsbiografie

Das bleibt für die Bildungs- und Berufschancen junger Männer nicht folgenlos. Das ständige Konsumieren des „Wir-gegen-Sie“-Narrativs fördert die soziale Isolation und den Rückzug aus der Mehrheitsgesellschaft. Noch schwerer wiegt die gezielte Abwertung von Schule, Ausbildung und Studium. Wenn Online-Akteure das Narrativ verbreiten, das staatliche System wolle Männer „verweichlichen“ oder ihnen die Wahrheit vorenthalten, verliert die Schule ihre Autorität als Ort des Wissenserwerbs. Zudem führt das propagierte rigide Männerbild in eine berufliche Sackgasse. In der Arbeitswelt von heute reichen Härte und Konkurrenzdenken nicht aus: Gefragt sind Teamfähigkeit, Empathie und die Fähigkeit, Konflikte auszutragen, ohne Beziehungen zu zerstören. Wer jedoch lernt, dass Dominanz die einzige Währung von Relevanz ist, wird im Arbeitsmarkt scheitern. Die digitale Radikalisierung verbaut somit auch analoge Zukunftschancen.

Das Vakuum füllen

Es greift zu kurz, das Problem bei den jungen Männern zu suchen, die nach Orientierung streben. Das eigentliche Problem ist das Vakuum, das wir ihnen hinterlassen haben. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, müssen wir verstehen, wie soziale Medien wirken – und warum sie für viele Jugendliche attraktiver sind als jedes schulische Angebot. Nicht, um sie gutzuheißen, sondern um anzuerkennen, dass wir die Verantwortung für diesen Raum nicht einfach abgeben können.

Es reicht nicht, diese Räume zu kritisieren; sie müssen mit anderen Geschichten von Männlichkeit und Religiosität gefüllt werden. Gefragt sind Formate, die in Qualität und Tempo mit den gängigen Feeds mithalten: keine PDFs, sondern kurze, visuell überzeugende Clips, die in der Bildsprache der Plattformen sprechen. Und wir brauchen das Angebot einer Neudefinition von Stärke: Stärke als Verantwortung, Empathie und Gerechtigkeit (Adl). Es gilt, religiöse Argumentationsmuster nicht den Extremisten zu überlassen, sondern progressive, theologisch fundierte Lesarten sichtbar zu machen. Damit einhergehen muss jedoch auch eine bewusste Ent-Islamisierung des Diskurses. Wir neigen dazu, bei Menschen mit einem muslimischen religiösen oder kulturellen Hintergrund jedes Problem reflexartig religiös zu deuten. Wir müssen lernen, Fragen wie Diskriminierung oder Identität auch säkular und bürgerrechtlich zu beantworten, statt sie stets zu theologisieren.

Gleichzeitig darf die Antwort nicht rein digital bleiben. Die digitale Radikalisierung erfordert authentische, analoge Ankerpunkte. Entscheidend sind überschaubare, peer-getragene Kontexte: Sportgruppen, Jugendtreffs, Gaming-Communities, in denen junge Männer Erfahrungen von Zugehörigkeit und Halt machen, ohne rigiden Hierarchien ausgeliefert zu sein. Nur wenn wir verstehen, dass Social Media heute ein zentraler Bildungsort ist, und wir bereit sind, dieses Vakuum online wie offline mit Angeboten zu füllen, die Jugendliche ernst nehmen und ihnen tragfähige andere Deutungen von Männlichkeit eröffnen, können wir verhindern, dass eine Generation junger Männer in eine digitale Parallelwelt abdriftet, die ihnen Souveränität verspricht, aber nur Isolation bietet.

Önceki